Gewissen und Schande der Nation

Werner Mittenzweis Parteinahme für die Intellektuellen in Ostdeutschland

Von Hannelore PiehlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hannelore Piehler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Intellektuellen, die ewigen Grübler und Kritiker, die Meister der Differenzierung, die Ideologieenthüller und leider manchmal auch -macher, haben es wahrlich nicht leicht. "Man hob sie auf die Königsebene, bezeichnete sie als Götter, die keine waren, pries ihre besten Vertreter als das Gewissen Europas oder beschimpfte sie als Bußgemeinde für die Hauptlasten und die Schande der Nation. Für die einen waren sie eine winzige Gruppe von Auserlesenen, für andere eine Bande von Unzufriedenen und Ehrgeizigen."

Diese Bilanz über ihre widersprüchliche Beurteilung zieht jedenfalls Werner Mittenzwei, selbst ein Vertreter der von ihm beschriebenen Spezies. Die letzte "große Abrechnung" in Deutschland fand unmittelbar nach der Wende mit den Intellektuellen der ehemaligen DDR statt. Eben noch als Seismographen der ostdeutschen Gesellschaft und subtile Staatskritiker im Westen gefeiert, waren sie nach dem Fall der Mauer plötzlich Kollaborateure der DDR-Macht. Jeder IM-Spitzel aus ihren Reihen wurde genüsslich durch Boulevard- und andere Blätter gereicht. Spätestens mit der Wiedervereinigung erschienen die ostdeutschen Intellektuellen dann nur noch als überflüssige Miesmacher. Differenzierungen waren bis auf weiteres nicht mehr gefragt. "Beklommen teilte im November 1990 Christa Wolf ihrem alten Lehrer Hans Mayer in Tübingen mit, was jetzt zu fürchten war: ,Es wäre jetzt so wichtig, die richtigen Fragen zu stellen. Selten geschieht es. Ich verhehle meine Furcht nicht, dass in dem Vakuum, das durch Desorientierung entsteht, die Dämonisierung des unbekannten Wesens DDR weiter um sich greift, die teils mit Bedacht, teils aus Mangel an Kenntnissen in vollem Gang ist. Zu ihr gehört auch die Monsterschau, in der Bürger der ehemaligen DDR in manchen Medien jetzt vorgeführt werden.'"

Über den Staat DDR und seine Literatur, über Wende, Wiedervereinigung und den deutsch-deutschen Literaturstreit ist in den letzten Jahren viel geschrieben worden. Nun legt der Literatur- und Theaterwissenschaftler Werner Mittenzwei, Mitherausgeber der Großen kommentierten Berliner und Frankfurter Brecht-Ausgabe, auch noch eine Studie über die Intellektuellen der DDR vor. Doch sind die 590 Seiten (inklusive Anmerkungen und Register) alles andere als entbehrlich. Mittenzweis umfassende Darstellung der "Literatur und Politik in Ostdeutschland 1945-2000" ist nicht nur informativ und mitunter so spannend zu lesen wie ein (Gesellschafts-)Krimi, sondern sie bildet auch eine ideale, eigentlich längst überfällige, Ergänzung zu Wolfgang Emmerichs "Kleine Geschichte der DDR-Literatur", dem unangefochtenen Standardwerk über die Literatur des SED-Staates. Wo sich Emmerich naturgemäß auf die literaturinternen Fragestellungen, auf die Entwicklung in Lyrik, Drama und Prosa konzentriert, bettet Mittenzwei nun die Positionen der Literaten stärker in die großen sozialen und politischen Zusammenhänge des Staates DDR ein. Und so erhält der Leser umfassende Informationen über die gesellschaftliche und ökonomische Entwicklung. Walter Ulbrichts wirtschaftliche Reformversuche durch das NÖS (Neues Ökonomisches System) und die daraus resultierenden Konflikte mit der UdSSR werden ebenso ausführlich geschildert wie die Kräfte, die den Zusammenbruch des Sozialismus schließlich bewirkt haben.

Die Intellektuellen wurden im neu gegründeten Staat DDR, anders als im Nationalsozialismus mit seiner Verachtung für die Intelligenz (was freilich zahlreiche Intellektuelle nicht davon abhielt, Hitler nur allzu willig zu folgen), zu Anfang regelrecht hofiert. Selbst in der unmittelbaren Nachkriegszeit standen Emigranten Wohnungen zur Verfügung. "Die materielle Unterstützung ging so weit, dass man in einigen Teilen des Landes Sonderläden für die Intelligenz einrichtete (ähnlich den Sonderläden für die Wismut-Arbeiter), was jedoch einige Intellektuelle eher peinlich als fördernd empfanden. [...] Dass solche Maßnahmen den Unmut der Arbeiter hervorriefen, konnte bei der noch immer schlechten allgemeinen wirtschaftlichen Lage nicht ausbleiben." Doch die SED benötigte die Literaten und kommunistischen Exil-Heimkehrer, die sich als Gegner des Nationalsozialismus bewährt hatten und nun, nach der in der Regel sehr bewussten Entscheidung für ein Leben im östlichen Teil Deutschlands, für die sozialistische Alternative eintraten.

Problematisch gestaltete sich jedoch in den folgenden Jahrzehnten die Zusammenarbeit der Schriftsteller mit den Funktionären der Partei, wurde das Verhältnis von Geist und Macht doch zunehmend gespannter. Mittenzwei liefert aus der historischen Distanz eine nüchterne Deutung wichtiger Ereignisse und ihrer Folgen und grenzt diese von den im Kalten Krieg in Ost und West jeweils ideologisch geprägten Interpretationen ab. So hat die ostdeutsche Intelligenz laut Mittenzwei am 17. Juni 1953 nicht "versagt", besonders hervorgetan habe sie sich aber freilich auch nicht: "Es war nicht ihr Tag. Dennoch war sie ein Teil dieser Bewegung. Sie war von der gesellschaftlichen Krise nicht weniger betroffen. In ihren Aktionen lag mehr organisierende Kraft als in dem spontanen Aufbegehren der Arbeiter. Doch die Aktionen der Intelligenz vollzogen sich mehr im Vorfeld und in der Zeit danach." Als wesentliche Protagonisten nennt Mittenzwei an dieser Stelle Wolfgang Harich und Bertolt Brecht. Beiden sind aufschlussreiche Reflexionen gewidmet. Beklemmend zu lesen ist beispielsweise, dass ausgerechnet Brecht mit seiner Forderung nach Wahrheit/Wahrhaftigkeit sich gegen die Veröffentlichung von Chruschtschows Enthüllungsrede über Stalin wandte. "Ihre verheerende Wirkung, so schien ihm, würde die neu errichtete Menschenwelt nicht verkraften."

Wolfgang Harich wiederum wird vorgestellt als derjenige DDR-Intellektuelle, der mit seiner "Plattform", "ungeachtet aller Schwächen und Grenzen, der politischen Naivität in der Wahl der Stunde [...] das umfassendste Programm aller Oppositionsbewegungen bis 1989 aufzuweisen hatte. Auch Reformer Gorbatschow besaß zu seiner Zeit [...] keine konkreteren Lösungen, kein besser ausgearbeitetes Programm." Harichs Verhaftung Ende November 1956 benutzte Walter Ulbricht für einen Schauprozess, der vor weiteren Sonderwegen in der Auslegung des Sozialismus abschrecken sollte. Dieser Prozess und das Verhalten der Angeklagten - Harich bekannte sich überraschend schuldig - wird ebenso einer Analyse unterzogen wie andere bekannte Stationen der DDR-(Literatur-)Geschichte: Bitterfelder Weg, Mauerbau, 11. Plenum, Biermann-Ausbürgerung etc. Stets versucht Mittenzwei dabei die Sicht der DDR-Intellektuellen und ihr Verhalten - ob als "Dissident" oder "Dogmatiker" - verständlich zu machen. Über zwölf Jahre nach der Wiedervereinigung, da die jüngere Generation die DDR und den Kalten Krieg nur noch aus den mythisch anmutenden Erzählungen ihrer Eltern kennt, ist diese hermeneutische Vorgehensweise nur von Vorteil. Einzig Mittenzweis Entscheidung, über sich selbst als Beteiligten wichtiger Ereignisse in der dritten Person zu schreiben, mutet dabei etwas seltsam an. Und auch bei der Wahl der Schwerpunkte kommen manchmal Zweifel auf: So findet das Schicksal eines Erich Loest, der immerhin sechs Jahre in Bautzen inhaftiert war, unverständlicherweise nur am Rande Erwähnung, und die Kritik einer Monika Maron an der DDR sorgt beim 75-jährigen Mittenzwei lediglich für Befremden, statt sie ernst zu nehmen und eingehender zu diskutieren.

Zu den spannendsten und aufwühlendsten Kapiteln des Buches gehören zweifelsohne die ausführlichen Rekapitulationen der Ereignisse von Wende und Nachwendezeit: Fluchtwelle aus der DDR, Montagsdemonstrationen, Fall der Mauer, Helmut Kohls Initiative des Zehn-Punkte-Plans zur deutschen Einheit, Einigungsvertrag usw. Mit der Distanz der Jahre erscheint manches, was die sich damals überschlagenden Ereignisse mit sich brachten, schier unglaublich. Die Illusion der Ostdeutschen, die am liebsten die sozialistischen Vorzüge mit dem riesigen Warenangebot der westdeutschen Marktwirtschaft vereint hätten, wirkt heute ebenso naiv wie die Siegermentalität, mit der Westdeutsche darangingen, sich ein Stückchen vom Kuchen Ostdeutschland zu sichern, zynisch. Mittenzwei scheut dabei nicht deutliche Worte, auch und gerade über die Rolle der Einheits-Politiker: "Nie hat einer die existentiellen Bedingungen eines Teils seines Volkes zugunsten des anderen so radikal und rücksichtslos dezimiert wie Helmut Kohl. Nie ist die Intelligenz eines beigetretenen Volksteils so zur Ader gelassen und an den Rand gedrängt worden."

Beim viel zitierten deutsch-deutschen Literaturstreit wurden die Differenzen, so könnte man im Nachhinein resümieren, immerhin öffentlich diskutiert. Denn in der Regel wurden die neuen Bundesbürger im Osten ohne großes Aufhebens "abgewickelt". Bestes - und von Mittenzwei wie alle anderen Aspekte sehr engagiert kommentiertes - Beispiel ist die, teilweise mit großer Arroganz einhergehende, "Entsorgung" der DDR-Wissenschaftler. Noch Ende der 90er Jahre sei diesbezüglich ein Hinweis des UNO-Gremiums auf verletzte Menschenrechte erfolgt, denn von den Wissenschaftlern der DDR seien nur zwölf Prozent weiterbeschäftigt worden. Nicht aus fachlichen, aus politischen Gründen seien sie entlassen worden. Nicht nur hier bezieht sich Mittenzwei auf das "Neue Deutschland" als Quelle für Kritik und Reflexionen. Auch dies ist ein Charakteristikum dieses Werkes: Sein Autor ist in grundlegenden Fragen durchaus parteiisch. Ob jedoch alle harschen Urteile und Bewertungen des langjährigen SED-Mitglieds und Marxisten Mittenzwei - beispielsweise über Gorbatschows politische Unfähigkeit und philosophische Unbildung, Monika Marons "hysterischen Tanz" als schriftstellerische Hass-Produzentin oder auch zur Diskussion um Stephan Hermlins Biografie - berechtigt sind, wäre im Einzelnen sicherlich zu diskutieren. In jedem Fall ist es aber interessant und sogar wichtig, einer solch dezidiert parteiischen Perspektive auf die Nachwendezeit zu begegnen. Noch immer wird schließlich ein ostdeutscher Blickwinkel in der öffentlichen Diskussion, übrigens auch der Diskussion um Wirtschafts- und Arbeitsmarktreformen, viel zu oft vernachlässigt, jedenfalls in den Medien der alten Bundesländer.

Auf die Aufgabe der Intellektuellen, gesellschaftliche Debatten zu führen, weist Mittenzwei nicht nur hin. Mit seiner Darstellung über die ostdeutschen Intellektuellen liefert er vielmehr selbst ein intellektuelles Plädoyer für einen nachdenklicheren Umgang mit der deutsch-deutschen Vergangenheit. Aus seinen Überlegungen zu den Gründen für das Scheitern des sozialistischen Experiments lassen sich auch Überlegungen zum Experiment Kapitalismus ableiten. Diese Reflexionen verdienen, nach dem unsanften Ende von New Economy und Börsenboom, durchaus Beachtung. "Solange das sozialistische System seinen Schatten auf die Welt warf, konnte der Kapitalismus seine eigene Widersprüche, die sozialen Gegensätze dämpfen. Als das sozialistische System zusammenbrach, hörten die Zugeständnisse auf. [...] Der Kapitalismus folgt wieder seinen ureigensten Triebkräften: Mehr Profit, mehr globale Macht." Mittenzweis Analyse trifft sich hier offensichtlich mit dem Unbehagen, das seit wenigen Jahren von Globalisierungsgegnern offen formuliert wird.

Von den Intellektuellen, das macht Mittenzweis Monografie ebenfalls deutlich, ist in der öffentlichen Debatte mehr zu verlangen, als parolenhaft die Bürger auf die Barrikaden zu rufen oder zweifelhafte Geschichtsvergleiche anzustellen. Mehr Differenzierungsfähigkeit und der Blick nach vorn könnten da schon helfen. Noch gelten Utopien ja als verbraucht, sogar als verdächtig. "Aber die Geschichte ist nicht zu Ende. Und sind nicht von jeher Menschen, die mit dem Sinnverlust, den sie verspüren, nicht mehr leben wollen oder können, Urheber großer Veränderungen geworden?" Dies schrieb die für das lange Festhalten an ihrer sozialistischen Utopie viel gescholtene Christa Wolf, beinahe etwas trotzig, 1999 in ihrem Essay-Band "Hierzulande Andernorts". Und weiter heißt es: "Ich ende nicht mit Gewissheit, ich ende mit einer Frage."

Titelbild

Werner Mittenzwei: Die Intellektuellen. Literatur und Politik in Ostdeutschland 1945-2000.
Faber und Faber Verlag, Leipzig 2001.
590 Seiten, 29,35 EUR.
ISBN-10: 3932545745

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