Unmittelbare Wahrheit statt Dichtung

Sigrid Damms "Christiane und Goethe" - eine Recherche

Von Gerald KollRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gerald Koll

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eintragung im Schreibkalender am 18. Januar 1816: "Vorbereitungen zum Ball. Vereitelung wegen eintretender Unpäßlichkeit." Am 6. Juni desselben Jahres wird die Tagebuchschreiberin unter schrecklichen Krämpfen verscheiden. Es ist Frau Geheimrätin Christiane von Goethe, 51 Jahre alt, Ehefrau des Weimarer Staatsministers und Dichterfürsten. Die letzten Tage schon hatte sich der 67jährige in die hinteren Gemächer zurückgezogen, zu chemischen Versuchen mit Pflanzenextrakten, zu Korrespondenz und Arbeit am Westöstliche Divan. Dem im eigenen Hause nistenden Sterben verweigert der Ästhet die Nähe. Der Tod, sagt er, sei ein "sehr mittelmäßiger Portraitmaler".

Fürsorge, Liebe gar, die man hier beim Ehemann Goethe nach 28 Jahren gemeinsamen Lebens mit Christiane, geborene Vulpius, vermissen mag, zollt ihr nun eine Lebens-Recherche der ausgewiesenen Goethe-Kennerin Sigrid Damm. Sie hat es sich nicht einfach gemacht: Briefe studiert, Archive durchforstet, Kirchenbücher, Amtliches. Die umfangreiche Literatur zu Goethe gibt nur bedingt Aufschluß, folgt allzu gern dem Diktum des Mäzens und durchlauchtigsten Weimarer Herzogs Carl August: "Die Vulpius habe alles verdorben". 18 Jahre lang uneheliche Gemeinschaft, Standesmesalliance - ein Dorn im Auge des Hofes. Schwer gemacht hat es sich die Autorin auch in der Abtragung des Materialberges. Immer läßt sie Dokumente sprechen, zwingt eigene Interpretation in Fragezeichen, gibt nur stichwortartige Verweise. Selten hat man solch unmittelbare Einblicke in die alltägliche Lebenswelt Goethes erhalten. Wahrheit statt Dichtung.

Die Wahrheit scheint trist und gänzlich unpoetisch. Romantisch nur der Beginn, Juli 1788 im Weimarer Park im Gartenhaus. Christiane Vulpius ist arm, knüpft in einer Blumenwerkstatt Gestecke. Die Armut des Bruders treibt sie zum gerade heimgekehrten Geheimrat von Goethe. Als Bittstellerin. Goethe seinerseits hat nach den Jahren keusch-anbetender Verehrung für Charlotte von Stein in Italien Genuß an sinnlicher Liebe bekommen. Erste Heimlichkeiten, erhöhte Rechnungen für "Confect, süße Maronen, gebrannte Mandeln". Der Schlosser verzeichnet vermehrt Reparaturen des Bettes. Ein Jahr später wird ein Sohn geboren, August, das einzige Überlebende von fünf Kindern.

Christiane wirkt auf Goethes Zeichnungen mit Rohrfeder und Bleistift fast derb: fallende Locken umspielen das Gesicht. Die 23jährige strahlt Natürlichkeit aus, die der 39jährige sucht. Der Hof moniert das "Gemeine" an Christianes Wesen. Die zurückgezogene Gartenidylle währt nicht ewig. Goethe zieht es fort, oft für mehrere Monate. Zu Hause sei "keine Sammlung möglich".

Nicht sehr schmeichelhaft, das Bild, das Damm von Goethe da zeichnet: ein griesgrämiger Herr, der seine Umgebung gängelt, bei Hofe ein eitler Geck, der sich Orden zuschanzt. Dagegen Christiane: als Reisende wehrbereit mit zwei Pistolen im Gepäck, aber zugleich vorurteilslos gegen jedermann. 18 Jahre lang, bis zur Heirat 1806, drückt sie die Ungewißheit, ob sie, die Geliebte, wieder in die Armut zurückgeworfen wird. Ihr Drängen auf Goethes Heimkehr weicht der Resignation. Sie arrangiert sich. Erst mit den Eskapismen, später mit den Eskapaden des alternden Gatten.

Die Lebenswege des Ehepaars verlaufen weitgehend getrennt. Christiane wird älter, dicker. Sie muß wacker bleiben, Munterkeit suggerieren. Sorge ist dem Genie lästig. Seit 1814 häufen sich Aufenthalte im Kurbad. Goethe wünscht sich Besserung. Sie rapportiert entsprechend, spielt Krankheiten herunter: "Vorbereitungen zum Ball. Vereitelung wegen eintretender Unpäßlichkeit."

Titelbild

Sigrid Damm: Christiane und Goethe.
Insel Verlag, Frankfurt/Leipzig 1998.
540 Seiten, 25,50 EUR.
ISBN-10: 3458169121

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