Selbstverdunkelung des Geschichtsbewusstseins

Christoph Cornelißen analysiert Leben und Werk Gerhard Ritters

Von Philipp StelzelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Philipp Stelzel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Sie werden begreifen, verehrter Herr Bundesminister, dass wir deutschen Historiker aufs schwerste bestürzt sind über die Aussicht, dass Herr Fischer seine völlig unreifen Thesen nun im direkten Auftrag des Auswärtigen Amtes [...] verbreiten soll", schrieb Gerhard Ritter im Januar 1964 an den damaligen Außenminister Schröder. Seine Intervention war nur vorübergehend erfolgreich: zwar wurde die vom Goethe-Institut finanzierte Vortragsreise des Hamburger Historikers Fritz Fischer, der eine - von Ritter abgelehnte - Neubewertung deutscher Politik vor und während des Ersten Weltkriegs vorgenommen hatte, abgesagt, aber Fischer konnte schließlich dank amerikanischer Unterstützung dennoch in die USA reisen. Vier Jahrzehnte nach der Kontroverse gelten Fischers Schriften trotz mancher Schwächen nach wie vor als Klassiker, wohingegen Ritter und sein Werk in fast völlige Vergessenheit geraten sind.

Warum dies so kam, ist eine der Fragen, die Christoph Cornelißen in seiner Habilitationsschrift zu beantworten versucht. Ferner interessieren den Düsseldorfer Historiker die Kontinuität von Ritters Methoden und Urteilen, die Sprache des Historikers sowie nicht zuletzt seine konkreten politischen Zielsetzungen. Dies ist schon deshalb von besonderem Interesse, weil Ritter, obwohl er stets vorgab (und es selbst glaubte), streng "objektive" Geschichtsforschung zu betreiben, sich immer auch als "Erzieher seiner Nation" verstand.

Der 1888 geborene Ritter stammte, wie so viele deutsche Historiker, aus einer Pfarrersfamilie, die eine große Verehrung für das preußische Königshaus empfand. Anfangs mehr an Theologie und Literatur orientiert, wandte er sich unter dem Einfluss seines späteren Doktorvaters Hermann Oncken hin zur Geschichtswissenschaft. Nach der Promotion 1911 wurde Ritter zunächst Lehrer. Wiederum war es Oncken, der Ritter nach dessen Kriegseinsatz zur Rückkehr in die akademische Welt bewegte. Er habilitierte sich 1921 in Heidelberg und wurde zwei Jahre später nach Hamburg berufen. 1925 wechselte er nach Freiburg, wo er bis zu seiner Emeritierung 1956 blieb.

Sollte man Ritters Leben und Werk mit einem Wort charakterisieren, wäre dies wohl das Adjektiv "widersprüchlich". So begrüßte er - wie viele andere Angehörige des nationalistisch-protestantischen Bildungsbürgertums - nicht nur in den ersten Jahren nach Hitlers Machtübernahme die nationalsozialistische Außenpolitik. Noch im Zuge des erfolgreichen Westfeldzuges ließ sich Ritter "auch literarisch auf das Feld der 'Einmarschhistorie' locken". Zudem wandte er sich lediglich gegen diejenigen Maßnahmen des Regimes, die ihn direkt betrafen (die Gleichschaltung der Geschichtswissenschaft und die NS-Kirchenpolitik). Andererseits gehörte Ritter zu den wenigen deutschen Historikern, die sich unter Gefährdung ihres Lebens an der Opposition gegen den Nationalsozialismus beteiligten - aufgrund seiner Kontakte zu Goerdeler saß er ein halbes Jahr im Gefängnis. Diese Uneindeutigkeit zeigte sich auch in seinen Werken. So konnten manche Stellen seiner Biographie Friedrichs des Großen als Kritik an staatlicher Willkür, andere hingegen als Zustimmung zur nationalsozialistischen Politik gedeutet werden.

Ritter wollte, wie erwähnt, stets auch politisch-pädagogisch wirken. Besonders nach 1945 konnte er dies tun, weil er sich sowohl inner- als auch außerhalb der Geschichtswissenschaft auf dem Höhepunkt seines Einflusses befand. Er amtierte als Präsident des Deutschen Historikerverbandes und wirkte maßgeblich am Wiederaufbau der Universität Freiburg mit (wobei er bei kompromittierten Wissenschaftlern wie etwa Heidegger stets für Milde plädierte). Durch seine Goerdeler-Biographie trug er entscheidend zum völlig unkritischen Bild des konservativen deutschen Widerstandes bei, das erst in den späten 1960er Jahren durch ausgewogenere Studien (wie etwa von Hans Mommsen) korrigiert wurde. Von seinem Selbstverständnis her sah sich Ritter zur Gestaltung des deutschen Geschichtsbildes verpflichtet, aus seinen Kontakten zum Widerstand leitete er die moralische Berechtigung dazu ab.

Fest davon überzeugt, der "Repräsentant der deutschen Geschichtswissenschaft schlechthin im In- und Ausland" zu sein, wie er es formulierte, bekämpfte er alle abweichenden Interpretationen seiner Kollegen aufs Heftigste. Er wandte sich gegen die Kritik katholischer Historiker (z. B. Franz Schnabel) an der traditionellen kleindeutschen Orthodoxie ebenso wie gegen Ludwig Dehios Studie "Gleichgewicht oder Hegemonie" und dessen Neubewertung des preußisch-deutschen Militarismus. Noch in dem 1954 erschienenen ersten Band seines Opus Magnums "Staatskunst und Kriegshandwerk" vertrat Ritter, so stellt Cornelißen prägnant fest, "eine Apologie aller deutschen Militärführer und Staatsmänner vor Hitler". Um so mehr musste es ihn entsetzen, dass Fritz Fischer zu Beginn der 1960er Jahre zu einer radikalen Neuinterpretation der deutschen Politik vor und während des Ersten Weltkriegs gelangte. Für Ritter war damit "der Gipfel der Selbstverdunkelung deutschen Geschichtsbewusstseins" erreicht und er benutzte alle ihm zu Verfügung stehenden Mittel, um dagegen vorzugehen, allerdings ohne langfristigen Erfolg.

Zu den besonderen Vorzügen des Buches zählt die Akribie, mit der sich Cornelißen den verschiedenen Facetten des Ritterschen Gesamtwerkes widmet (keine leichte Aufgabe, da es von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg reichte und sowohl Geistes- als auch Militär- und Politikgeschichte umfasste). Sein Urteil ist zwar kritisch, aber dennoch ausgewogen - am entlarvendsten sind ohnehin die bloßen Zitate Ritters ohne weiteren Kommentar. Ein wenig zweifelhaft erscheint lediglich die Hervorhebung des angeblichen methodischen Innovationspotentials in Ritters Werk. Denn dieser forderte zwar des öfteren die Öffnung der Geschichtswissenschaft gegenüber ihren Nachbardisziplinen und ebenso die Erweiterung der traditionellen Politikgeschichte durch die Integration sozialer und kultureller Faktoren, blieb aber in der Realität weit hinter seinen eigenen Appellen zurück. Ob man daher Ritter statt Conze zum Pionier der Strukturgeschichte erklären sollte, sei dahingestellt.

Diese eher marginalen Zweifel ändern jedoch nichts am Gesamturteil: Christoph Cornelißen hat ein beeindruckende Studie vorgelegt, die neben Ritter selbst immer auch die Entwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft insgesamt im Blick hat und deshalb als ein wertvoller Beitrag zu ihrer Geschichte im 20. Jahrhundert gelten kann.

Titelbild

Christoph Cornelißen: Gerhard Ritter. Geschichtswissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert.
Droste Verlag, Düsseldorf 2001.
758 Seiten, 50,10 EUR.
ISBN-10: 3770016122

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