Was wäre, wenn Wagner ...?

Eine glückliche Fahrt mit F. W. Bernstein

Von Johannes MöllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Möller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In F. W. Bernsteins vor 15 Jahren erschienenem Lyrikband "Lockruf der Liebe" sticht ein Gedicht formal und inhaltlich aus den restlichen hervor: "Der Sittenfuchs", eine biographische Moritat, schildert auf über acht Buchseiten das Leben des Eduard Fuchs ("Kommunist, ein schwerreicher Mann und ein Dichter, Kulturhistoriker, Sinologe, Sexualforscher..."). Der Moritatentonfall, der immer wieder collagenhaft durch Zitate von und über Fuchs bereichert wird, balanciert zwischen Heiterkeit und Melancholie, transportiert aber immer auch handfeste Information. Wer schon damals bewunderte, wie Bernstein der nur scheintoten Moritat wieder auf die Sprünge half, mag sich gefragt haben: "Könnte er das auch über eine noch längere Strecke durchhalten, vielleicht sogar eine ganze Biographie hindurch?"

Die Antwort liegt jetzt vor. "Richard Wagners Fahrt ins Glück" gibt dem Nicht-Wagnerianer einen durchaus soliden Überblick über den "abenteuerlichen Lebenslauf" des Helden und bietet doch viel mehr als das: Denn stärker noch als die platten Fakten treibt Bernstein die - oft und zu Unrecht verpönte - Frage um: Was wäre gewesen, wenn? Anlässe dafür bietet oft Wagners "schwindelreiche" (Bernstein) Autobiographie. So behauptet Wagner, er habe Kaspar Hauser kurz vor dessen Ermordung ausgerechnet in Bamberg getroffen. Worüber könnten die beiden fast gleichaltrigen bei einer so unwirklichen Begegnung gesprochen haben? Wenn Bernstein Hauser sagen lässt: "Von Euch weiß man in künftiger Zeit,/ was Ihr geschaffen weit und breit./ Ich brauch' nicht viel zu tun und bin/ doch auch im Gedächtnis der Menschen drin", ist das nicht nur kongenial erfunden, sondern bietet auch eine durchaus plausible Erklärung, was den Komponisten am "Kind Europas" bis zum Realitätsverlust fasziniert haben könnte.

An anderer Stelle seiner Autobiographie gibt Wagner zu, dass ihm zur Ausführung seiner kühnsten Pläne der Mut gefehlt habe. Dabei handelte es sich allerdings nicht um Opernprojekte, sondern um sein Angebot an Cosima, sie in Anwesenheit ihres Gatten Hans von Bülow auf einer Schubkarre durch das nächtliche Frankfurt zu schieben. "Nur im Gedicht/ Kneift Wagner nicht" heißt es bei Bernstein, doch dann treibt er die beiden nicht nur im Text am Café Pflasterstrand und anderen Sehenswürdigkeiten vorbei ("Cosi - Cosa - bleib sitzen!"), sondern widmet dem Thema auch ungeheuer einfallsreiche Zeichnungen. Gleich vier Mal ist Wagner mit Cosima in der Karre zu sehen - davon zwei Mal auf dem Titelbild. Dazu liefert der Sohn eines Wagnermeisters gesondert fünf Entwürfe passender Schubkarren, teils spartanisch, teils mit Sonnenschirm oder in Schwanenform. Der sich anschließende Ausblick auf das Verhalten Vicco von Bülows, der den gehörnten Hans nicht etwa rächt, sondern stattdessen nach Bayreuth pilgert, weil auch er von Wagners Schaffen betört wird, wird dann mit einem wacker werkelnden Wagner-Gartenzwerg - natürlich mit Schubkarre - illustriert.

Dies ist beispielhaft für die durchgehende Gleichwertigkeit von Wort und Bild, zu der Bernstein nach bildlosen Lyrikbänden nicht nur zurückkehrt, sondern sie auf höchstem Niveau neu zelebriert. Oft weiß man erst nach dem Umblättern, ob eine Episode aus Wagners Leben nun per Gedicht oder per Zeichnung zur Pointe geführt wird. Der Gemeinplatz, dass ein Bild mehr als tausend Worte sagt, kann etwa kaum schöner bewiesen werden als mit Bernsteins gezeichnetem Pas de deux zwischen Wagner und Nietzsche. Wenn aus Cosimas Aufzeichnungen zitiert wird, dass bei einem Besuch ihres Vaters (Franz Liszt) dessen Wunsch nach Bier "- ach - Veranlassung zu einer kleinen Auseinandersetzung" gab, bedarf es einer wahren Doppelbegabung, um sechs verschiedene Erklärungen zu liefern, wie sich das zugetragen haben könnte: "Ist er schon ganz aufgeräumt?/ 'Kinder habt ihr was, das schäumt?'" Auf allen sechs Zeichnungen entfährt Cosima ein "Ach!" und bereits die unterschiedliche Gestaltungen dieser Schriftzüge zeigt - als Schnittpunkt von Wort- und Bildkunst - Bernsteins Meisterschaft.

Zeichnungen wie Texte umfassen breite Stilpaletten: Von der federnden Skizze über einen plakativen Comic-Strip bis hin zu stark abstrahierter, ornamentalistischer Grafik reichen die einen. Von der Imitatio wagnerscher Texte ("Wäre ich Wagners Walvater Wotan,/ Wandert' ich nächtlich") bis zur pennälerreimhaften Interviewfrage an Liszt ("Sie ham's doch gebürstelt, gepoppt - fickifick?/ Und vorher war's die Comtesse de Saint Crique") spannen sich die anderen - insoweit unvergleichlich mit der eingangs erwähnten Moritat über Fuchs. Und dennoch: Das Gedicht "Der Sittenfuchs" endet mit der Behauptung, dass der Berg "Fuchseck" bei Göppingen, dem Geburtsort Fuchsens wie Bernsteins, nach ersterem benannt sei. Wagners geplante, aber nicht ausgeführte und daher von Bernstein ausgedachte Flucht in die schwäbische Alb nimmt von Göppingen ihren Ausgang am Fuchseckhof vorbei - vielleicht eine diskrete werkimanente Anspielung.

Bernstein, der grundsätzlich liebevoll mit Wagner umgeht, verschweigt nicht dessen furchtbare Rolle bei der Entfaltung des Antisemitismus und dem Wechsel von dessen religiöser zu einer rassistischen Begründung ("Das Judentum in der Musik"). Hier liefert Bernstein weder zeichnerische, noch dichterische Verarbeitung, sondern setzt auf den groben Klotz einen groben Keil, wenn er Wagner als Stinkstiefel und rechte Drecksau bezeichnet. Sicher ist er damit im Recht, dennoch ist die Kunstverweigerung zu bedauern. Angesteckt von den Arbeitsweise des Autors, fragt sich der Rezensent, wie man es hätte machen können, welche Form die geeignete gewesen wäre. Vielleicht ein Epigramm?

Wer sagt, dass ein Jude nicht Künstler sein kann, ist dumm oder unmoralisch,

Und wer zum Beleg dessen Mendelssohn nennt, obendrein unmusikalisch.

Titelbild

F. W. Bernstein: Richard Wagners Fahrt ins Glück. Sein Leben in Bildern und Versen.
Wissenschaftlicher Verlag Berlin, Berlin 2002.
240 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3828601405

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