In der Fassung der Handschrift
Die bestechende Sorgfalt der kritischen Kafka-Ausgabe ist jetzt auch im Taschenbuch greifbar
Von Helge Schmid
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas eigentlich Erstaunliche an Kafkas Werk ist doch immer wieder dasselbe: Die schmale Hinterlassenschaft, ein zu Lebzeiten kaum sichtbares Werk, "20 dicke Hefte", die er noch in seinem letzten Lebensjahr von seiner Freundin Dora Diamant im Ofen verbrennen ließ, der zwiefach verfügte Wunsch, seinen gesamten Nachlass zu vernichten - und dann solch ein opulentes Œuvre. Es ist das Verdienst des Nachlaßverwalters Max Brod, dass das Werk - so unmissverständlich Kafkas Direktive auch war - der Vernichtung entging und gewissenhaft, wenn auch mit Gewissensnot, der Nachwelt erhalten wurde.
Die Nachfahren Max Brods in der Betreuung von Kafkas Werk haben inzwischen vollendet, was der Autor selbst für unvollendet hielt, haben an die Öffentlichkeit gezerrt, was er geheim halten wollte, haben zudem Wiedergutmachung an einem Autor geübt, den die Nazis verfemten und dessen Bücher sie öffentlich auf den Scheiterhaufen warfen.
Und was für ein Werk das war, das kam erst Stück für Stück ans Licht, das wurde erst durch die "Gesammelten Werke" der Gebrüder Schocken allmählich sichtbar, und da war an die Manuskripte, die Max Brod mit sich nach Jerusalem nahm, noch gar nicht gedacht. Kafkas Lebens- und Wirkungsgeschichte ist untrennbar mit Max Brod und der Geschichte seiner Veröffentlichungen verbunden. Erst die "Kritische Ausgabe" machte jedoch, begleitet vom stetig anschwellenden Strom der Forschungsliteratur, das Werk in seiner ursprünglichen und authentischen Gestalt (annähernd) sichtbar. Nun macht die Taschenbuchausgabe, ein wohlfeiler Reprint der Kritischen Ausgabe, die Editionsleistungen des vergangenen Jahrzehnts für jedermann erschwinglich. Die ,inhaltliche' Beziehung der einzelnen Kapitel und Fragmente, die eingeordneten und und wieder verworfenen Blätter, die ,materielle' Basis der Handschrift und die Handschrift selbst dienten der Rekonstuktion des Autorwillens. So gelang es Malcolm Pasley, dem Herausgeber des Romanfragmentes "Der Proceß", den überlieferten Text einschließlich der im Manuskript erkennbaren Korrekturvorgänge sichtbar zu machen (Textband 357 Seiten, Apparatband 351 Seiten!). Die "Gewissensnöte", die gleichwohl geblieben sind, formulierte Jost Schillemeit, Herausgeber des "Amerika"- Fragments, bei einem Marbacher Colloquium zur Kritischen Ausgabe: Es sei trotz der Eingriffe des Herausgebers (bei offensichtlichen Versehen, Verschreibungen etc.) möglich, die Entstehung des Romans und seine Chronologie exakt zu rekonstruieren. Anhand des Schriftverlaufs, der Schriftverteilung auf den Seiten, der Menge der Wörter der Seite, des Charakters der Buchstaben und des verwendeten Papiers konnte Pasley auch den Beginn der Niederschrift datieren: Anfang August 1914 etwa entstand die erste Seite, der Schluss kurz darauf. Aber erst 66 Jahre nach Kafkas Tod, 65 Jahre nach dem Erstdruck des Romans, konnte dieses Jahrhundertwerk zuverlässig "in der Fassung der Handschrift" vorgelegt werden.
Auch das Tagebuchwerk konnte erstmals textlich gesichert und zudem sorgfältig kommentiert herausgegeben werden (die Edition besorgten Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley): Was Max Brod noch glaubte weglassen zu können, liegt nun vollständig editiert vor. Die kritische Ausgabe druckt Kafkas Tagebücher integral ab, was zur Folge hat, dass die von Brod hergestellte Chronologie teilweise korrigiert werden musste, und auch die Textgliederung - Absätze, Hervorhebungen, Zeilenfall - stammen jetzt von Kafka selbst und nicht mehr vom Herausgeber. Kafka hat in verschiedenen Heften und zu unterschiedlichen Zwecken Tagebuch geführt - und auch Beobachtungen, Notizen, Exzerpte, ja ganze Erzählungen hier festgehalten. Wie wichtig ihm das Tagebuch war, zeigt eine Eintragung vom 25. Februar 1912: "Das Tagebuch von heute an festhalten! Regelmäßig schreiben! Sich nicht aufgeben! Wenn auch keine Erlösung kommt, so will ich doch jeden Augenblick ihrer würdig sein."
Die Sorgfalt ist bestechend: Hans-Gerd Koch hat eine Liste von nicht weniger als 83 Änderungen und Streichungen zusammengestellt, die Brod vorgenommen hat. Erstmals wird jetzt Kafkas Schreibprozess sichtbar, auch scheinbar Unfertiges oder Unwichtiges ist hier erfasst, Wiederholungen bleiben erhalten, Exzerpte und Notizen aus der Privatlektüre des Autors behalten ihren Ort, selbstverständlich auch anstößige, derbe, intime Passagen, die Brod noch glaubte streichen zu müssen. Eine Eintragung über Alfred Kubin lautet: "Die Erzählungen über seine Potenz machen einem Gedanken darüber, wie er wohl sein großes Glied in die Frauen stopft."
Besonders intrikat war die Herausgabe der "Nachgelassenen Schriften und Fragmente" in zwei Bänden, herausgegeben von Malcolm Pasley (Band 1) und Jost Schillemeit (Band 2). Diese Schriften waren bisher auf nachträglich 'komponierte' Erzählungsbände wie "Beschreibung eines Kampfes" und "Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande" verteilt, und zwar ohne Rücksicht auf ihre Genese und ihren Texttyp. Die Orientierung an Kafkas Schriftträgern, Oktavheften, Einzelblättern und Konvoluten erlaubt es nun, den handschriftlichen Zusammenhang zu rekonstruieren und einen Blick in die Werkstatt des Dichters zu werfen. Neben neuen Versionen und Lesarten, Exzerpten und Notizen, begonnenen und wieder verworfenen Fingerübungen, die belegen, dass Kafka oftmals verschiedenen Anläufe nehmen musste, um dem Gewünschten nahe zu kommen, stößt man auch auf Briefentwürfe und auf die eigens von Kafka angelegte Aphorismensammlung.
Richtig war die Entscheidung, Text und Apparat auf jeweils zwei Bände zu verteilen: Es erleichtert das Arbeiten ungemein, wenn man den Kommentar aufgeschlagen neben sich legen kann. Und wer ganz auf neue Medien umsteigen möchte, darf sich ebenfalls freuen: Die Editionsleistung des S. Fischer Verlages steht inzwischen sogar Internet-Surfern zur Verfügung (http://kafka.chadwyck.com), sofern sie ein Password für die elektronische CD-ROM-Ausgabe bei Chadwyck-Healey besitzen. Das Volltext-Angebot bietet die Möglichkeit, Kafkas komplexes Werk nach seinen zentralen oder marginalen Inhalten zu durchsuchen und ihre Entwicklung im Gesamtwerk nachzuvollziehen. Das Angebot wird ständig von den Herausgebern aktualisiert, neue Forschungsergebnisse fließen auf diese Weise laufend in die WWW-Ausgabe mit ein.
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