Transsylvanien und Transzendenz

Zu Dieter Schlesaks neuen Reisegedichten

Von Jürgen EgyptienRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Egyptien

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wolfgang Koeppen bekennt in seinem Essay "An Ariel und den Tod denken", er suche auf Reisen "das Fremdsein ganz und kraß", das Eintauchen ins Unvertraute, Bindungslose. Ganz ähnlich definiert auch Dieter Schlesak in seinem neuen Gedichtband das Motiv seines Reisens. In dem Text "Warum reise ich?" sieht das lyrische Ich im Reisen die Chance, "unbeschwert nirgends sein" zu können. So verstanden ist das Reisen die adäquate Existenzweise des Utopisten, als welchen man Schlesak ansehen darf. Dabei richtet sich sein utopisches Bestreben nicht auf ein politisches Traumland, sondern auf eine viel elementarere Grenzüberschreitung. Das Gedicht "Du sagtest, eine Zeitreise, bitte", das als eine Art Exposition fungiert, nennt den Menschen einen "Zeithäftling" und eine "kranke Zeit-Maschine". Das Reisen erscheint unter diesem Blickwinkel als Therapeutikum, als heilender Ausbruch aus dem Kerker des Vergehens und der ewigen Wiederholung. Was die Reise leistet, ist also eine Unterbrechung, die von Schlesak emphatisch als Befreiungsakt gedeutet wird.

Wer mit seinen Ideen einer posthumen Existenz, die das übliche Raum-Zeit-Kontinuum aufsprengt und die Seele sozusagen durch die Jahrhunderte und in höhere Dimensionen surfen lässt, ein wenig vertraut ist, der wird diese Vorstellung vom Reisen als ihr dromologisches Äquivalent verstehen. Es treten neben die Reisen durch den Raum und über seine dreidimensionalen Grenzen hinaus auch solche ins Innere des Ichs. In dem gelungenen Gedicht "Dann dieser frühe Morgen" wird die Selbstbegegnung des Ichs mit seinem unvergänglichen Astralleib in einer erleuchteten und luziden Sprache evoziert: "da sah ich dich ganz transparent / an einer Grenze zwischen Augenschein / und dem Gedanken // [...] du liegst in mir und bist der Andere der ich bin / und der ich immer war der nie verging // [...] du wortlos überlebst im Licht / nicht in den Sinnen". Im Gedicht "Korsika. St. Florent mit dem Segelboot" hingegen löst das Schattenspiel der Steilküste im Ich die schockhafte Erkenntnis aus, "ein ganzes Leben // als fremdes Gespenst" verbracht zu haben.

Diese existentielle Instabilität und Ortlosigkeit, die dem Ich der gemäße Zustand ist, haben freilich ihre biografischen Ursachen. Bereits Ende der 60er Jahre ist der aus Siebenbürgen stammende Schlesak in den Westen gegangen und pendelt seitdem zwischen Italien und Deutschland hin und her. Sein rumänischer Landsmann Cioran hat ihm mit der in einem Motto verwendeten Formulierung, die Exilanten seien "die neuen Juden", das Siegel auf seine ahasverische Lebensauffassung geprägt.

So vermittelt der Aufbau dieses neunteiligen Gedichtbands eine gewisse Atemlosigkeit, ja, wirkt beinahe hektisch. Von der ligurischen Küste springt das Ich in ein erinnertes Transsylvanien, kehrt in die Toscana zurück, um sogleich wieder in das Rumänien der Gegenwart aufzubrechen. Wieder folgt im Pendelschlag eine Segelpartie im Tyrrhenischen Meer, bevor der Reisende über Rom und die amalfitanische Küste nach Sizilien jagt, um sich quasi vom italienischen Stiefelabsatz ins Imaginäre abzustoßen. Am von Touristen entstellten Gestade des kretischen Meers holt den Fliehenden die Frage ein: "wohin, Freunde/ohne / zu sterben?" Was folgt, ist eine Coda mit lyrischen Gedenkblättern, die an deutschen Orten fällig werden.

Die Sprache von Dieter Schlesaks Gedichten ist von ihrem Thema bestimmt. Sie ist ruhelos, sprunghaft, gehetzt, kennt keine weiten Schwingungen oder melodiösen Bögen. Es gibt immer wieder aufblitzende, von fernher kommende Bilder, "als sei der Schlaf / plötzlich träumend / erwacht", aber auch manche ungeschliffene Prosabrocken. Ein Zyklus fällt aus dieser Beschreibung weitgehend heraus und weist einen ruhigen, einfühlsamen und stimmungsvollen Duktus auf. Es ist - sicher kein Zufall - der nostalgisch gefärbte transsylvanische Erinnerungszyklus, der sich auch durch seine präzisen und atmosphärisch reichen Naturbilder von den übrigen abhebt. Der Reisetrieb wirkt hier obsolet, denn hier findet das Ich "im Blumenauge die Welt".

Kein Bild

Dieter Schlesak: Los. Reisegedichte.
Lyrikedition 2000, München 2002.
123 Seiten, 12,50 EUR.
ISBN-10: 3935877595

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch