Dichter dran am Dichter in der Provinz

Walter Kempowskis Tagebuch "Alkor" schildert das Wendejahr 1989

Von Andrea DienerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andrea Diener

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schriftstellertagebücher sind eine wunderbare Literaturgattung. Man kann sie in der U-Bahn lesen, soweit das Format es erlaubt; man kann sie morgens hinter der Müslischale aufstellen und gemeinsam mit dem Autor den Tag beginnen oder abends noch ein, zwei Tageseinträge vorm Ins-Bett-gehen goutieren, um dem Kopf noch was zum Denken zu geben. Man kann sie immer wieder aus dem Buchregal nehmen und zwischendurch eine fremde Woche ins eigene Leben einschieben. Gerade Schriftstellertagebücher eignen sich zum ziellosen Lesen, weil sie nicht auf einen Punkt zusteuern, nicht im ersten Drittel die Klimax, im letzten Drittel den Untergang vorbereiten, sondern einfach von Tag zu Tag flanieren. Das Leben nehmen wie es kommt. Die Schönheit und Tücke steckt im Detail. Und langsam entwickeln sich Handlungsfäden, aber ohne Dramaturgie, ohne Aufregung, sachte und kaum merklich zwischen den Beobachtungen und inneren Monologen. Und ehe man sich's versieht, sitzt man im Kopf eines Fremden und schaut durch seine Augen und fängt an, sich über Dinge aufzuregen, über die man sich bisher noch nie aufgeregt hat.

Mit Walter Kempowski guckt man sogar morgens in die Zeitung. Jedem dieser 365 Tage, später als "Wendejahr" bezeichnet, sind die Schlagzeilen von "BILD" und "Neues Deutschland" vorangestellt, einmal West, einmal Ost also. Allein diese Sammlung ist Gold wert.

Eine eigene Unterabteilung, die sich durch das Buch zieht, bildet der "Dorfroman": Neues von Hühnern, Schafen, Hundkatzemaus und dem Sitkalausbefall des heimischen Nadelwäldchens. Ab und zu fallen Schulklassen oder Volkshochschulen ein und kommen, mit mehr oder weniger Enthusiasmus, zum Dichtergucken. Manchmal finden Schriftstellerseminare statt, manchmal benehmen sich Leute daneben. Meistens sind die Leute allerdings so langweilig wie du und ich, weil das hier ja kein Roman ist und nichts und niemand aufgebauscht wird.

Da mag es Leser geben, denen das zu banal erscheint, aber eben gerade das Nebeneinander von Himmelsstürmendem und Erdverwurzeltem macht die Sache ja so interessant. Denn wenn kein Handlungsverlauf herausdestilliert werden muss, wenn nicht an der Sprache herumgefeilt wird, bis kein Bild mehr schief hängt, dann ergeben sich andere Qualitäten: Zum Beispiel die ganz tagebuchspezifische Qualität des Schreibenkönnens, ohne dass einem imaginäre Käufer und Kritiker über die Schulter gucken. Da kann man auch mal eine Seite vor sich hingranteln, ohne an den Leser zu denken. Und Herrn Kempowski sei's von Herzen gegönnt; denn wer sich darauf einlässt, der erwartet nicht, dass der Tagebuchschreiber sich für einen verstellt und höflich tut. Denn wir, die Tagebuchleser, sind ja kein Volkshochschulklassenbesuch im Hause auf Nartum, wir sitzen neben dem Dichter im Lehnstuhl und dürfen mitgranteln. Vielleicht ist es das, was die Faszination von Schriftstellertagebüchern ausmacht: Man ist dichter dran am Dichter als bei jedem anderen Werk. Zumindest kann man sich das einbilden.

Wer Tagebücher liest, bekommt oft das, was im literarischen Filter hängengeblieben ist. Das, was dann doch - aus welchen Gründen auch immer - nicht wert war, aufgearbeitet und geglättet zu werden. Das Ungehobelte, Nicht-Prosakompatible. Darauf muss man sich einlassen, wenn man Tagebücher liest, und man sollte sich hinterher nicht beschweren, dass das ja irgendwie alles so unfertig wirkt.

Titelbild

Walter Kempowski: Alkor. Tagebuch 1989.
Knaus Verlag, München 2001.
608 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3813526046

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