Mit den Augen eines Kindes

Anja Lundholms Biographie "Geordnete Verhältnisse" ist ein Appell an die Menschlichkeit

Von Katharina IskandarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katharina Iskandar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Manchmal werden Biographien aus Eitelkeit geschrieben, bisweilen aus falschem Selbstverständnis. Aber es gibt auch jene, die geschrieben werden müssen. Anja Lundholm mag dies geahnt haben, als sie sich entschloss, ihre Kindheitserinnerungen zu veröffentlichen. Entstanden ist ein biographischer Romanzyklus, der in Anekdoten ihre Kindheitserlebnisse in den dreißiger Jahren beschreibt, den Jahren, in denen sie und ihre jüdische Mutter den aufkeimenden Antisemitismus zu spüren bekamen. Es waren jene Jahre, in denen sich für Lundholm die scheinbar heile Familienidylle durch ihren tyrannischen Vater von ihrer dunkelsten Seite gezeigt hat.

"Geordnete Verhältnisse" hat die in Düsseldorf geborene Schriftstellerin den ersten Band ihrer Biographie genannt. Ein Titel, der fast schon ironisch das Familienmuster ihrer stark partriarchalisch geprägten Herkunft beschreibt. In allen Einzelheiten erzählt Lundholm das Schicksal der kleinen Ruth, die mit ihren Gedanken, Gefühlen und Erlebnissen für die Autorin selbst steht. Ordnung und Disziplin werden ihr von klein auf abverlangt - die psychischen Auswirkungen jedoch erkennt niemand, nicht einmal ihre Mutter. Es trifft den Leser hart, wenn da geschrieben steht: "Es war von Anfang an klar, dass ich kein Kind zum lieb haben bin". Worte, die nicht zuletzt durch den biographischen Aspekt einen bitteren Beigeschmack bekommen.

Wie ein gut gehütetes Geheimnis, das jahrelang bewahrt wurde, kommt nun alles ans Licht und findet seinen Platz in den Memoiren eines Kindes, das in Wahrheit keine Kindheit hatte. Da ist einerseits der Konflikt zwischen ihrem herrischen Vater, einem Apotheker, und ihrer jüdischen Mutter - einer hochgebildeten Frau, die sich jedoch den Verhältnissen anpasst und in erster Linie eine gehorsame Ehefrau ist, und andererseits der Kampf zwischen Loyalität und Verrat, der sich in der Ausgrenzung der Mutter durch den eigenen Ehemann zeigt.

Anja Lundholms Erinnerungen sind eine kostbare Rarität. Nicht nur, weil sie erneut Einblick in ein jüdisches Schicksal geben, das hier in dramatischer Weise zum Familienkonflikt avanciert, sondern auch, weil ihre Sprache durch die authentisch-dichte Atmosphäre Wirkung zeigt. Aus naiver Kindersicht blickt die Erzählerin in ihre Vergangenheit. Dies tut sie nicht nur mit den Worten, sondern auch mit den Gedanken eines Kindes: "Man muss sehr vorsichtig sein mit Erwachsenen. Manchmal tun sie, als hätten sie uns lieb, aber in Wahrheit wollen sie nur irgend etwas von uns, und wenn sie erreicht haben, was sie wollen, ist gar keine Liebe mehr übrig."

Zart, fast zerbrechlich wirken diese Worte. Und immer wieder erfährt man durch die Augen der vierjährigen Ruth etwas über die "geordneten Verhältnisse" der Familie und ihrer Umwelt. Drastisch spitzt sich die Lage zu, als der Vater eine Affäre mit dem Kindermädchen beginnt und die Mutter mit Ruth aus der Stadt flüchtet. Dann gibt es Momente, in denen man fast aufschreien möchte, so sehr schmerzen die Erinnerungen von Anja Lundholm, die sowohl im familiären Umfeld als auch im politischen der grausamen Realität entgegentreten musste. "Heiraten heißt gehorchen und immer Angst haben zu müssen, dass man etwas falsch macht und angebrüllt wird", schreibt sie. "Ich will frei sein, wenn ich erwachsen bin. Freiheit muß etwas sehr Schönes sein".

Titelbild

Anja Lundholm: Geordnete Verhältnisse.
Herbig Verlag, München 2001.
304 Seiten, 17,80 EUR.
ISBN-10: 3784428118

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