Oliver Jahraus untersucht in "Literatur als Medium" die Sinnkonstitution und Subjekterfahrung zwischen Bewusstsein und Kommunikation

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Buch (zugleich Habilitationsschrift, Bamberg 2001) erarbeitet einen Medienbegriff vorrangig für die deutschsprachige Literatur seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Es erfasst die Sinndimension und das Interpretationspotenzial, die Literatur konstitutiv charakterisieren, als mediale Konstituenten. Die Arbeit ist theoretisch-systematisch ausgerichtet, wenngleich mit einer historischen Perspektivierung. Sie verfolgt eine stringente Argumentation, Literatur als Interpretationsmedium zu fundieren. Ihr Medienbegriff kann methodologisch fruchtbar gemacht werden, neue literarhistorische Perspektiven eröffnen und als Interpretationsauftrag für mediale Prozesse verstanden werden.

Ausgangspunkt der Überlegungen ist die kritische Sichtung bisheriger Versuche, eine Medienwissenschaft der Literaturwissenschaft zu entwerfen und zu begründen. Wo vielfach der Mangel und das Desiderat eines grundlegenden Medienbegriffs beklagt wird, unternimmt es diese Arbeit, einen solchen aus einer Letztbegründungsebene herzuleiten. Mit dem Bewusstsein als Letztbegründungsebene ist nun ein erster Baustein gegeben, aus dem sich alle folgenden Bausteine der Arbeit - Kommunikation, Medium/Medien, Sinn, Wahrnehmung, Zeichen, Schrift, Text und schließlich Literatur und Literaturwissenschaft - konsequent ergeben. Weil der Umstand, Bewusstsein als Reflexion zu denken, zu einer autorreflexiven Paradoxie führt, erweitert die Arbeit diesen Grundbaustein um den der Kommunikation und gelangt so zu der systemtheoretischen Idee einer strukturellen Kopplung von Bewusstein und Kommunikation. Medien leisten diese strukturelle Kopplung und ermöglichen gleichzeitig die Formatierung von Wahrnehmung in Sinn und Zeichen, wie die Auseinandersetzung mit systematischen bzw. technischen Medienbegriffen (von Niklas Luhmann bzw. Friedrich Kittler) deutlich werden lässt. In einer weiteren Konkretisierung werden dann Schrift und Text - in Auseinandersetzung mit der Schriftforschung - als Formen von Medien untersucht, die diese strukturelle Kopplung sinnkonstitutiv leisten.

Schließlich wird der Blick auf die Literatur ergänzt durch die soziohistorische Perspektive auf die Umstellung der Gesellschaftstypik von einer stratifikatorischen zu einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft. Der so konzipierte Medienbegriff bekommt vor diesem Hintergrund eine dynamische Komponente und literarhistorische Perspektive. Literatur definiert sich seit dieser Sattelzeit im 18. Jahrhundert über ihre neue und moderne Funktion, die darin besteht, die auf dieser gesellschaftsstrukturellen Grundlage frei werdenden Sinnpotenziale aufzufangen, auszudrücken und zu aktualisieren. Es ist ein mediales Potenzial von Literatur, zu Interpretationen anzuregen, deren Aktualisierung es den Lesern erlaubt, sich selbst als Subjekte zu entwerfen und zu erfahren. Denn Literatur, wie es am Beginn einer seither andauernden Entwicklung insbesondere die literarhistorischen Kontexte von Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm und Drang, ja der Goethezeit überhaupt, deutlich machen, erlaubt es, die Disponibilität von Sinn so zu nutzen, dass die literarische Medienerfahrung zugleich als Subjektivitätserfahrung verbucht werden kann: Sinnkonstitution als Subjektivitätsentwurf!

Als paradigmatisch für die Entwicklung der Literatur als modernes Mediensystem wird insbesondere die Lyrik herausgestellt. Im 18. Jahrhundert wird - nicht nur in der Lyrik - Subjektivitätserfahrung sowohl als Thema entfaltet wie auch als Prozess literarisch vollzogen; und Literatur entwickelt sich zu dem hierfür schlechterdings notwendigen Medium. Dieser Prozess wird in den Modernitätsschüben um 1900 und ebenso in den historischen Avantgarden selbst noch einmal reflexiv umgesetzt. Schließlich werden in der Arbeit die literaturwissenschaftlichen und literaturtheoretischen Konsequenzen bilanziert. Die Arbeit schließt mit einem Ausblick auf eine Funktion von Literatur, die nicht suspendierbar ist, auf eine Literatur, die nicht sterben wird und auf eine mögliche Ethik der Literaturwissenschaft, wie sie sich aus ihrer medialen Interpretationsgrundlage ableiten lässt.

O. J.

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Titelbild

Oliver Jahraus: Literatur als Medium. Sinnkonstitution und Subjekterfahrung zwischen Bewußtsein und Kommunikation.
Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2003.
708 Seiten, 65,00 EUR.
ISBN-10: 3934730663

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