Erinnerungen an einen schwarzen Riesen

Freunde, Kollegen und Zeitgenossen über Uwe Johnson

Von Rainer Paasch-BeeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Paasch-Beeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Bernd Neumann 1994 seine monumentale Johnson-Biographie vorgelegt hatte, durfte man vermuten, dass man dort über die wichtigsten intellektuellen Gesprächspartner und Kollegen Johnsons informiert werden würde. Die einzigartigen Zugriffsmöglichkeiten auf den Bestand des Frankfurter Johnson-Archivs, die Neumann jahrelang gewährt wurden, ließen dies wahrscheinlich erscheinen. Das Ausmaß einer solchen Fehleinschätzung macht der großartige Band mit fast zwanzig Beiträgen von so unterschiedlichen Zeitgenossen Johnsons wie Wolfgang Neuss und Franz Josef Strauss deutlich, den Roland Berbig und seine Mitstreiter vorgelegt haben. Ob Neumann die von ihnen erstmals veröffentlichten Briefwechsel Johnsons etwa mit Reinhard Baumgart oder Peter Wapnewski schlicht übersehen oder aus werkkontextuellen Motiven unberücksichtigt gelassen hat, kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Insbesondere der auf über 40 Seiten von den Herausgebern dokumentierte und kommentierte Briefwechsel Johnsons mit Baumgart, bis zu seinem Tod vor einem Monat einer der einflussreichsten deutschen Literaturkritiker und früher einer der besten Kenner von Johnsons Arbeiten, zeigt dabei, welche Schätze bis vor kurzem unbeachtet in Frankfurt lagerten.

Thomas Wild, der für diesen Komplex verantwortliche Co-Herausgeber, widmet sich verstärkt den poetologischen Korrespondenzen, die für ihn sogar in einem gemeinsamen poetologischen Horizont Baumgarts und Johnsons kulminieren. Das aus heutiger Sicht kaum nachvollziehbare Hick-Hack um Baumgarts Laudatio anlässlich der Verleihung des Büchner-Preises an Johnson 1971 zeigt einmal mehr, welch schwieriger Zeitgenosse Johnson für "Freund und Feind" zugleich, so Baumgart in einem Brief von 1971, wohl gewesen sein muss. Ein längeres Gespräch mit Baumgart aus heutiger Perspektive rundet diese "Befreundung" ab.

Den Namen Peter Wapnewskis, einem der bedeutendsten Altgermanisten Deutschlands, sucht man im Register von Neumanns Johnson-Biographie vergeblich. Zahlreiche in Berbigs Buch abgedruckte Briefe Wapnewskis von und an Johnson machen nun erstmals deutlich, welche Lücke auch an dieser Stelle geschlossen worden ist. Wapnewskis in einem kurzen Gespräch geäußerte Einschätzung Uwe Johnsons könnte stellvertretend als "Motto" über fast allen Beiträgen dieses Bandes stehen: "Er war eine Monade, ein gewaltig in sich verschlossener Mensch ... von großer, wahnwitziger Entschiedenheit in Bezug auf sich selber, seine Meinungen, seine Vorstellungen. Er war nie ein Zweifelnder, sondern er wusste immer in der ungeheuren Sicherheit seines ihm gehörigen privaten Moralsystems, was richtig und falsch war, und war von unerbittlicher Härte gegenüber anderen, von denen er wusste oder zu wissen glaubte, dass sie moralisch nicht integer seien." Vor allem dieser Zug Johnsons scheint es gewesen zu sein, der enge Beziehungen, ja Freundschaften zu schreibenden Kollegen sehr kompliziert, wenn nicht unmöglich gemacht hat. Die Gespräche mit Klaus Wagenbach, Tankred Dorst und Walter Kempowski, dem anderen schreibenden Mecklenburger, geben davon beredt Zeugnis.

Vielleicht nicht zufällig befindet sich exakt in der Mitte des Bandes das Interview mit Peter Rühmkorf. Rühmkorf, der sich kurzerhand "alkohologisch" zum Saufbruder Johnsons erklärt und ihre Beziehung als "Trinkerfreundschaft" tituliert, wartet nicht nur mit einigen glänzenden Anekdoten auf. Ausgerechnet von ihm stammen dabei zwei bildreiche Zuschreibungen, die das ganze Ausmaß der Unsicherheit erkennbar werden lassen, das Johnsons ehemalige Kollegen bei der Erinnerung an den 1984 Verstorbenen offenbar umtreibt. Nennt er ihn zu Beginn noch einen "Schreckensmann", so fasst er seine Erinnerung an einen Auftritt Johnsons bei einem Gottfried-Benn-Colloquium der Westberliner Akademie der Künste im Oktober 1978 sogar in das beunruhigende Bild des "schwarzen Todesengels".

Erfreulich ist, dass fast allen Gesprächen und Beiträgen der Hang zu einer nachträglichen Verklärung Johnsons fremd bleibt. Diese kritische Distanz zum Autor der "Jahrestage" beschränkt sich dabei nicht auf die schon angesprochenen problematischen Seiten der Person, sondern machen auch vor dem Werk nicht halt. Stellvertretend für solche Kritik insbesondere an den "Jahrestagen" sei noch einmal Rühmkorf zitiert, der Johnsons vierteiligen Roman eine "Kapitulationsurkunde" nennt und ihren Inhalt als "unergiebiges Amerikazeugs" und "steriles Zeitungsgelese" charakterisiert. Differenzierter fällt Klaus Wagenbachs Urteil über Johnsons opus magnum aus: "Die 'Jahrestage' sind ein sehr eindrucksvolles Werk, aber - es ist ein Klotz, wer will das lesen?" Eine Frage, die sich am Ende auch der vorliegende Band gefallen lassen muss: Ohne Frage enthält er zum Teil bewegende, zum Teil bestürzende Erinnerungen an den Autor und den offenbar schwierigen Menschen Johnson. Viele Details aus noch unveröffentlichten Briefen eröffnen den Lesern - und zwar beiden: den Liebhabern und den Philologen - neue und weiterführende Einblicke in Johnsons Texte und vor allem die Bedingungen ihrer Entstehung. Aber zugleich wird der eher zufällige, vielleicht neugierige Leser, der eigentlich nicht jedes Detail aus dem Leben des Meisters kennen will, an manchen Stellen ein wenig überfordert - weniger wäre dort vielleicht mehr gewesen.

Bleibt am Ende die Hoffnung, dass sich Martin Walser, der sich und seine Erinnerungen den Herausgebern hier schon zum zweiten Mal verweigert hat, beim dritten Versuch eines Besseren besinnt und sich einem Gespräch stellt. Er hat mit Sicherheit noch Einiges mitzuteilen.

Titelbild

Roland Berbig / Thomas Herold / Gesine Treptow / Thomas Wild (Hg.): Uwe Johnson. Befreundungen. Gespräche, Dokumente, Essays.
Kontext Verlag, Berlin und Zempernick 2001.
544 Seiten, 30,00 EUR.
ISBN-10: 3931337405

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