Es schmerzte sie alles, das Leben, die Menschen, die Zeit

Zum 30. Todestag Ingeborg Bachmanns

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nicht nur die Oberflächlichkeiten einer Verona Feldbusch eignen sich als Projektionsfläche für Männerphantasien, sondern auch Schriftstellerinnen mit hintergründigen Werken. Mögen jener die klebrig-feuchten Träume pubertierender Jungs und lüsterner Greise gelten, so ziehen Lyrikerinnen und Literatinnen eher die Phantasien von Kollegen und Kritikern auf sich. Zweifellos sind deren Phantasien sublimer und sie verstehen es, ihren Träumen eloquenter Ausdruck zu verleihen als die Konsumenten von "Veronas Welt", ebenso zweifellos ist es aber die typische Projektion eines Mannes, die Heinrich Böll an Ingeborg Bachmann stets "wie an ein Mädchen" denken lässt. "Mädchen", das fiel ihm anlässlich des Todes von Ingeborg Bachmann ein, die vor 30 Jahren, am 17. Oktober 1973, an den Folgen schwerer Verbrennungen erlag. "Das Mädchen", so wurde sie Hans Werner Henze zufolge auch von Max Frisch gerne genannt, der ihr über Jahre hinweg nahe stand wie kein anderer.

Weit deutlicher sind die sexuelle Konnotation und der Sexismus der Bildersprache, die jenem Mann zu Ingeborg Bachmann einfällt, der füglich als Erotomane unter den Literaturkritikern gelten kann. Eine "gefallene Lyrikerin" sei die Literatin, meinte Marcel Reich-Ranicki nach der Lektüre von "Malina" und den "Simultan"-Erzählungen, womit er nicht nur Assoziationen an den gefallenen Erzengel Luzifer evoziert, der aufgrund seiner Hybris zum Teufel mutierte, sondern auch an das 'gefallene Mädchen', dem die Rechtschaffenen zwar vielleicht etwas caritatives - jedenfalls aber selbstgefälliges - Mitleid entgegenbringen, mehr noch aber auf es herabsehen, ist sein Los doch selbstverschuldet.

Man schrieb das Jahr 1972, als Reich-Ranicki sein Verdikt von der "gefallen Lyrikerin" über Ingeborg Bachmann verhängte und davon sprach, die - wie er an anderer Stelle schrieb - "vielleicht bedeutendsten deutschsprachigen Lyrikerin unseres Jahrhunderts" sei auf den "Schutz" von "Vers und Strophe", von "Metrum und Rhythmus" angewiesen. Bachmann hatte zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht nur zwei Aufsehen erregende Lyrikbände veröffentlicht, sondern war längst anerkannte und mehrfach preisgekrönte Autorin von Erzählungen, Libretti und Hörspielen. Der männliche Blick auf die, da weiblich, schutzbedürftige und um Schutz heischende Autorin traf Ingeborg Bachmann allerdings von ihrem ersten öffentlichen Auftritt im Rahmen einer Tagung der Gruppe 47 im Jahre 1952 an. Mögen die Anekdoten um ihre flüsternde, stockende Vortragsweise, ihre - wie es heißt, bewusst eingesetzte - Schusseligkeit, über fallengelassene Manuskriptseiten und ähnlichem mehr zutreffen oder nicht. Immer wieder machte das "männliche Beschützerbegehren" (Sigrid Weigel) sich die Literatin zum Objekt.

Auf nachgerade perfide Weise bricht sich der hier allerdings nur paternalistisch verbrämte Überlegenheitsdünkel eines Kollegen in dem ebenso plumpvertraulichen wie infantiliserenden Offenen Brief Bahn, den Hans Weigel "[s]eine[r] lieben Inge" 1958 anlässlich ihres Engagements gegen die Stationierung von Atomwaffen auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland schrieb. "Sag mal Inge, was ist Dir da eingefallen? Bist Du ganz und gar von Gott verlassen", fragt er scheinbar besorgt. Solange sie Gast in Deutschland sei, habe sie - "noch dazu als Dame" - wenigstens ein "Minimum an Takt und Zurückhaltung" zu wahren.

Doch nicht alle Männer sahen in ihr ein unbeholfenes kleines Mädchen, dem es zu helfen galt, oder eine aufmüpfige uneinsichtige Göre, die zurecht gewiesen gehörte. Der Komponist Hans Werner Henze, in dessen unmittelbarer Nähe sie während der 50er Jahre auf Ischia lebte und für den sie mehrere Libretti schrieb, phantasierte sie gerne als "meine große Schwester", an die er sich gerne anlehnte und deren "Geist" seiner "Schwachheit" aufhalf. Obwohl nur sechs Tage älter als er, habe ihr Wissen "um die Welt, um die Menschen, um Dinge der Kunst" das seine "um zweitausend Jahre" übertroffen. Oft habe er ihr das Herz ausgeschüttet, wenn sich wieder einmal eine seiner Liebesaffären dem Ende zuneigte, bekennt er in seiner Autobiographie. Umgekehrt sei es allerdings undenkbar gewesen, dass Ingeborg Bachmann ihm oder anderen Einblick in ihre Privatsphäre gewährt habe. Auch dann nicht, als sie später gemeinsam ein Haus in Neapel bezogen hatten. Von den Liebesqualen, die Bachmann in ihren Beziehungen durchlitt, zunächst mit Hans Weigel, sodann mit Paul Celan und später mit Max Frisch, erfuhren weder Henze noch andere etwas, oder doch zumindest kaum etwas. Dass die Männer sie "immer schlecht behandelt" haben und wie sehr sie etwa "nach dieser Tragödie mit dem Herrn Frisch" litt, konnte Henze allerdings nicht entgehen. "Es schmerzte sie alles, das Leben, die Menschen, die Zeit", erinnerte er sich Ende der 90er Jahre in einem Interview.

Doch in ihren zu Lebzeiten unveröffentlicht gebliebenen Gedichten schrie Bachmann die Qualen, die ihr der Liebesverrat von Max Frisch bereiteten, fast schon unartikuliert heraus, wie der jüngst von den Erben publizierte Lyrik-Band "Ich weiß keine bessere Welt" (2001) zeigt. Anders als in diesen, von der Autorin kaum zur Veröffentlichung vorgesehenen Schmerzensschreien, gelang es ihr in den Prosawerken, die Hölle des Liebes- und Geschlechterkampfes auf höchstes literarisches Niveau zu sublimieren. Die autobiographischen Spuren treten - zumal in den Fragment gebliebenen Werken - dennoch immer wieder deutlich hervor. So etwa, wenn die Autorin, die ihre Liebesbeziehungen zu Hans Weigel und Max Frisch in deren Werken der Öffentlichkeit preisgegeben sah, die Protagonistin des "Requiem[s] für Fanny Goldmann" klagen lässt, ihr Geliebter, der Schriftsteller Toni Marek, habe sie "ausgeweidet" und "aus ihr Blutwurst und alles gemacht", er habe sie "geschlachtet auf 386 Seiten in einem Buch".

Bachmanns kurz vor ihrem Tode geäußerte Auffassung, der Faschismus sei "das erste in der Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau", resultiert jedoch sicherlich nicht nur aus ihren wahrhaft zerstörerischen Liebeserfahrungen, sondern meint auch den Faschismus, der nicht mit den "ersten Bomben" anfängt, sondern in den Beziehungen zwischen den Menschen. Bachmanns von Hans Weigel gescholtenes politisches Engagement gründet auf der Faschismus-Erfahrung eines jungen Mädchens, in dessen weithin heile Welt dröhnend grölende Nazi-Horden hereinbrachen. Es führte sie nicht nur zum Protest gegen die Stationierung von Atomwaffen, sondern später ebenso gegen den Vietnamkrieg und vor allem zu ihrem Einsatz für die Aufhebung der Verjährung von Naziverbrechen und schließlich zum Wahlkampf für Willy Brandt. Dabei hatte sie sich in den während der ersten Hälfte der 50er Jahre für "Radio Bremen" und die "Westdeutsche allgemeine Zeitung" unter dem Pseudonym Ruth Keller verfassten "Römischen Reportagen" eher konservativ gezeigt.

Adornos Diktum, dass es barbarisch sei nach Auschwitz Gedichte zu schreiben, widerlegte Bachmann als "erste Frau der Nachkriegsliteratur des deutschsprachigen Raumes, die mit radikal poetischen Mitteln das Weiterwirken des Krieges, der Folter, der Vernichtung in der Gesellschaft, in den Beziehungen zwischen Männern und Frauen beschrieben hat" (Elfriede Jelinek) mit ihrem ersten Gedichtband "Die gestundeten Zeit" (1953). "Wo Deutschlands Himmel die Erde schwärzt,/ sucht sein enthaupteter Engel ein Grab für den Haß/ und reicht dir die Schüssel des Herzens.// Eine Handvoll Schmerz verliert sich über den Hügel.// [...] Sieben Jahre später/ in einem Totenhaus,/ trinken die Henker von gestern/ den goldenen Becher aus. Die Augen täten dir sinken." Weder ein 'Gedicht über Bäume', das nach Auschwitz wirklich barbarisch gewesen wäre, noch plumper, nicht minder barbarischer Agit-Prop, ist der "Frühe Mittag", aus dem diese Zeilen stammen. Nichts wäre Bachmanns Überzeugung, "daß kein Künstler sich von Autoritäten vorschreiben lassen darf, was er künstlerisch zu tun und zu lassen hat" (Henze) mehr entgegen gewesen als eine Literatur, die sich der Politik andient, wie es 15 Jahre später der 'revolutionäre' Zeitgeist forderte. Peter Schneider etwa wollte nur noch "[d]ie agitatorische und propagandistische Funktion der Kunst" gelten lassen. Und so lässt sich ihr 1968 im Kursbuch 15 veröffentlichtes Gedicht "Keine Delikatessen" vielleicht doch nicht "nur als Kritik an den schönen Effekten ihrer eigenen Lyrik lesen", wie Bernd Witte zu wissen meint, sondern protestiert möglicherweise gerade gegen den im Kursbuch und andernorts proklamierten "Tod der Literatur". Wie anders lässt sich ihr weiteres Schaffen erklären?

Galt in den 50er und 60er sowie den frühen 70er Jahren die Bewunderung insbesondere Bachmanns lyrischem Werk, in deren Gedichten sich die Kritiker "wohlig gruselnd einrichteten", während sie gegen die Erzählungen eine "Hetzjagd" entfachten (Elfriede Jelinek) - nur ausnahmsweise erkannte ein Kritiker wie Wolfgang Hartung den "großartigen Anfang, den Ingeborg Bachmann mit ihrem ersten Prosaband gesetzt hat[te]" -, so änderte sich das in den folgenden Jahrzehnten mit den Veröffentlichungen nachgelassener Werke im Rahmen der vierbändigen, 1978 erschienenen Werkausgabe, die einen neuen Blick auf Bachmanns Œuvre ermöglichte, darunter insbesondere das damals noch als "Der Fall Franza" bezeichnete Fragment aus dem monumental angelegten "Todesarten"-Projekt. Einen weiteren Schub erhielt die wissenschaftliche Rezeption durch dessen kritisch edierte Veröffentlichung 1995.

Anhand der Publikationen aus dem Nachlass wurde schnell deutlich, wie unsinnig Reich-Ranickis Wort von der "gefallenen Lyrikerin" ist, erwies sich doch, dass Bachmann in den 60er Jahren durchaus nicht 'das Repertoire [ge]wechselt' hatte. Vielmehr zeigte sich, dass Bachmann seit den 40er Jahren an Prosa-Texten arbeitete und somit zu Recht als "Prosa-Autorin sui generis" (Frauke Meyer-Gosau) bezeichnet werden kann.

Zu der neuen Zugangsweise zu Bachmanns Werk trugen jedoch nicht nur die Veröffentlichungen aus dem Nachlass bei, sondern ebenso die in den 70er Jahren aufkommende feministische Literaturwissenschaft, deren erste Umarmungen Bachmanns gelegentlich zwar vielleicht allzu heftig ausfielen. Das "ungläubige Erstaunen", mit dem Barbara Völker-Hezel auf Interpretationen reagiert, die in Bachmanns Werken den "Anfang einer feministischen Haltung" entdeckten, kann man dennoch kaum nachvollziehen. Zu deutlich schildert Bachmann die Gesellschaft nicht nur in "Malina" als den "allergrößte[n] Mordschauplatz", auf dem Frauen stets die Opfer und Männer die Täter sind - zumindest im Bereich persönlicher (Liebes-)Beziehungen, dort also, wo der Faschismus beginnt. Auch wenn sich Bachmann, wie Sigrid Weigel feststellt, "noch nicht feministisch artikulieren" konnte, da "eine Öffentlichkeit für verallgemeinernde, programmatisch die Situation von Frauen kritisierende Überlegungen" erst nach ihrem Tode entstand, so lässt sich Weigels Frage, ob Bachmann "eine heimliche Feministin wie viele Frauen vor ihr auch" gewesen sei, nicht anders als bejahen. Und sie ist aktuell! Mag der Feminismus inzwischen auch lange über die für Bachmanns Werk kennzeichnende geschlechtsspezifische Täter-Opfer-Dichotomie hinaus sein, so binden die Überlegungen der als Frau unterdrückten, vergewaltigten und letztlich zerstörten Protagonistin in "Das Buch Franza", sie sei "von niederer Rasse. Oder müsste es nicht Klasse heißen", die späterhin in der feministischen Theorie so prominente Kategorien-Trias von Rasse, Klasse und Geschlecht bereits in den 60er Jahren zusammen. Zweifellos ist also Christine Kanz zuzustimmen, wenn sie betont, dass Bachmanns Bücher zu den "Standartwerken jeder feministisch orientierten Bibliothek" gehören - und, so könnte man hinzufügen, nicht nur dort sollten sie zu finden sein!


Titelbild

Ingeborg Bachmann: Ich weiß keine bessere Welt. Unveröffentlichte Gedichte.
Piper Verlag, München 2000.
195 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 3492042554

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Ingeborg Bachmann: Römische Reportagen. Eine Wiederentdeckung.
Piper Verlag, München 2000.
123 Seiten, 7,90 EUR.
ISBN-10: 3492229387

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