Über die Liebe - das unerreichbare magische Lebenselixier

Benjamin Leberts zweiter Roman "Der Vogel ist ein Rabe"

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Benjamin Lebert ist inzwischen 21. Jeder kennt ihn, jeder mag ihn, seit er 1999 als Sechzehnjähriger mit seinem ersten Roman "Crazy" einen sagenhaften Erfolg feierte. Sein Buch wurde in 33 Sprachen übersetzt, eine Million Mal verkauft und verfilmt. Danach zog sich Benjamin Lebert zurück, um - von Verlag, Publikum und Kritik gedrängt - sein nächstes Buch zu schreiben. Hier ist es: "Der Vogel ist ein Rabe".

Mit diesen nüchternen Fakten beginnt beinahe jede Rezension, die sofort nach der plötzlich vorgezogenen Auslieferung des Buches in Zeitschriften, Zeitungen und im Internet in Literaturkritik-Sammlungen und auf Fan-Websites pubertierender Lebert-Fans erschienen. Grund für den rasch geänderten Veröffentlichungstermin des dünnen Taschenbuchs ist ein Exklusiv-Interview von Benjamin Lebert im Spiegel Anfang August. Der Verlag wollte die durch das offenherzige Interview ausgelöste Neugier in Verkaufszahlen umsetzen. Doch der Erfolg hält sich in Grenzen: noch ist "Der Vogel ist ein Rabe" auf der Spiegel-Bestsellerliste nicht aufgetaucht.

Eins ist klar: Würde es sich bei dem Autor nicht um den jungen, gefeierten Benjamin Lebert handeln, dann würde man über dieses Buch nicht viele Worte verlieren. Lebert schildert die Fahrt zweier junger Männer, Henry und Paul, im Nachtzug von München nach Berlin. Henry verstrickt seinen Altersgenossen Paul im Schlafwagenabteil in ein langes Gespräch über die Liebe und das Leben an sich. All die Scheinweisheiten zweier junger Männer über die Arroganz hübscher Mädchen, die Sehnsucht nach Sex und die Probleme mit käuflicher Liebe werden im Zugabteil ausgetauscht. Alle in den Erzählungen auftretenden Mädchen sind sich ihrer Reize sehr bewusst, setzen sie geschickt ein und spielen mit den Männern. Die Prostituierte, mit der Paul schlief und in die er sich prompt verliebt hat, will von Paul nach der Nacht nichts mehr wissen. Sie sucht unter Einsatz ihres wohlgeformten Körpers nach einem reichen Mann, der ihr alle Wünsche erfüllen kann. Die schöne Christine aus Henrys Lebensgeschichte genießt es, Männer zu becircen, ihnen von ihren Vorlieben zu berichten, bis ihnen "praktisch der Speichel aus den Mündern tropft".

Nach der autobiographischen Internatsgeschichte "Crazy" scheint auch der zweite Roman von Lebert seine eigenen Probleme mit dem weiblichen Geschlecht aufzuarbeiten: "Gerade die Mädchen können mir nicht helfen. Weil sie sämtliche Sehnsüchte, sämtliche Ängste, sämtliche Tragik, die mir zusetzt, verkörpern. Es war ja schon immer wahnsinnig schwierig, ein Mädchen zu finden, das einen versteht oder gar rettet - wenn man überhaupt von jemandem gerettet werden kann". Ein Auszug aus dem Spiegel-Interview mit Benjamin Lebert, der ebenso im Buch hätte stehen können. Gerettet wird Jens nicht, der übergewichtige beste Freund von Christine. Er ist in Christine verliebt, würde es aber niemals zugeben. Als diese den Kontakt zu ihm abbricht, dreht Jens durch, rast mit Henry durch die Stadt zu ihrer Wohnung. Er hat sie geschlagen, Henry trifft Christine mit blutunterlaufenen Stellen im Gesicht und an den Armen vor. Trotzdem kann der Leser kaum Mitleid mit ihr empfinden, ist doch vorher lange geschildert worden, wie sehr Jens unter seiner Fettleibigkeit leidet, obwohl er das ebenfalls nie zugibt. Jens hatte in einer Schachtel persönliche Dinge von Christine gesammelt, die diese vergessen hat: einen Kamm mit Haaren, Slips usw.

Man könnte meinen, Jens sei das Opfer, der wegen seines Aussehens keinen sexuellen Kontakt zu Frauen aufbauen kann. Soll der Leser darauf gestoßen werden: Eigentlich ist Christine und mit ihr die ganze Frauenwelt schuld, wenn ein Mann ausrastet, bloß weil er keinen Sex hat - warum nimmt sie Jens denn nicht? So schiebt Lebert gerne der merkwürdigen Gesellschaft, die sich Zwängen unterordnet, die Schuld zu. Und eine Stadt verkörpert in seinen Augen die ganze Gewalt der Menschheit: Berlin. Berlin mache die Menschen kaputt. Niemand habe die Kraft, den Kampf mit Berlin aufzunehmen. Lebert hatte diese Kraft auch nicht und zog von Berlin nach Freiburg. Die beiden Jungen im Nachtzug können es mit Berlin erst recht nicht aufnehmen. Kraft könnten sie allein aus der Liebe, dem "Lebenselixier", schöpfen, das ihnen versagt bleibt. Liebe bedeutet für Henry, keine Angst mehr zu haben. "Diese ekelhafte, alles fressende Angst" will Henry besiegen - aber wie, wo doch anscheinend alle Frauen gegen die Männer stehen?

Benjamin Leberts zweiter Roman ist ein aufregendes, intensives, kurzes und ¾für das jugendliche Zielpublikum besonders wichtig¾ in der preisgünstigen Kiwi-Reihe erschienenes Buch, das wunderbar das Weltbild pubertierender Jugendlicher widerspiegelt - Einsamkeit ohne Ende, Trauer ohne jede Erlösung und Sehnsucht, Sehnsucht, Sehnsucht zum Verrücktwerden! Und dann blättert der Leser auf die letzte Seite des Buches. Das völlig unglaubwürdige Ende nimmt dem Buch die ganze Spannung, man möchte beinahe lachen. Die Wandlung der zärtlichen, intimen Offenbarungen im Schlafwagen hin zu einem harten Thriller passt so gar nicht in die Story. Wie sich erweist, trägt nämlich auch der schweigsame Paul ein grausames Geheimnis mit sich herum. Das Buch endet mit den Worten: "Ich bin eben kein Erzähler wie du". Auch Benjamin Lebert ist es vielleicht noch nicht ganz. Aber er ist verdammt nahe dran.

Titelbild

Benjamin Lebert: Der Vogel ist ein Rabe. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003.
128 Seiten, 9,90 EUR.
ISBN-10: 3462033360

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