Von Strukturalisten und anderen Apologeten

Nicolas Berg analysiert die westdeutsche Geschichtsschreibung über den Holocaust

Von Philipp StelzelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Philipp Stelzel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Historiographiegeschichte hat in der deutschen Geschichtswissenschaft zur Zeit Hochkonjunktur. Neben monographischen Studien sind in den vergangenen Jahren zahlreiche Biographien bedeutender Historiker erschienen (etwa über Theodor Mommsen, Franz Schnabel oder Gerhard Ritter). Ähnlich wie in der Geschichtswissenschaft viele der heftigsten Forschungskontroversen über die Interpretation des Nationalsozialismus geführt wurden, sorgt auch das Verhalten deutscher Historiker im "Dritten Reich" regelmäßig für Diskussionen, so insbesondere auf dem Frankfurter Historikertag 1998, als es um Werner Conze und Theodor Schieder ging, die manchen sogar als "Vordenker der Vernichtung" erschienen.

Nicolas Berg interessiert sich in seiner Dissertation hingegen für die Frage, wie westdeutsche Historiker sich in ihren Werken mit dem Holocaust befasst haben. Beginnend mit den unmittelbar nach Kriegsende entstandenen Arbeiten von Friedrich Meinecke und Gerhard Ritter, spannt er den Bogen bis in die Gegenwart, zu Götz Aly und Ulrich Herbert. Berg bedient sich dabei eines "gedächtnisgeschichtlichen Ansatzes", der im Gegensatz zur reinen Historiographiegeschichte neben der wissenschaftlichen Forschung über eine Epoche selbst auch die Erinnerung an sie sowie die wechselseitigen Bezüge zwischen Erforschung und Erinnerung berücksichtige.

Bezüglich der ersten Generation deutscher Historiker liefert Berg nichts Neues. Dass Gerhard Ritters Bild des "Dritten Reiches" "noch stärker verzerrt" war als das von Friedrich Meinecke, ist hinlänglich bekannt, ebenso wie die Tatsache, dass Ritter und Hans Rothfels, wenn sie über den Nationalsozialismus schrieben, in erster Linie den konservativen Widerstand glorifizierten und die Kontinuitäten zwischen dem "Dritten Reich" und seiner Vorgeschichte abstritten. Der Mord an den europäischen Juden wurde von ihnen hingegen nicht thematisiert.

Für die fünfziger Jahre konstatiert Berg einen Wandel im Vergleich mit der unmittelbaren Nachkriegszeit: die oft gebrauchten Etiketten wie "Restauration" und "Verdrängung" erfassten nur einen Teil der Realität dieses Jahrzehnts, in dem zur gleichen Zeit deutsche Historiker zum ersten Mal den deutschen Umgang mit der NS-Vergangenheit kritisierten. Fritz Ernst, Reinhard Wittram und Hermann Heimpel schrieben ferner über ihr eigenes Verhalten im Nationalsozialismus und über die Scham, die sie angesichts dessen nun empfanden. Auch wenn sich diese Schriften weniger auf Nationalsozialismus und Holocaust selbst, sondern mehr auf die eigene Befindlichkeit konzentrierten, bewertet Berg sie als "notwendige erste Etappe auf dem Weg zum Sprechen über den Völkermord".

Zwei - miteinander verknüpfte - Aspekte in Bergs Studie verdienen besondere Beachtung, denn seine diesbezüglichen Bewertungen sind nicht nur neu, sondern haben auch in den vergangenen Monaten in der Geschichtswissenschaft für reichlich Gesprächsstoff gesorgt. Zum einen vertritt Berg die These, dass jüdische Historiker von ihren deutschen Kollegen als "Gegengedächtnis", d.h. als Vertreter einer subjektiven und mythischen Geschichtsschreibung, wahrgenommen oder sogar ignoriert wurden. Insbesondere die "Flakhelfer-Generation" habe - in ihren eigenen Worten - eine "nüchterne" und "objektive" Annäherung an die Zeit des Nationalsozialismus angestrebt und bestritten, dass jüdische Forscher dazu auch in der Lage seien.

Nun ist eine solche These keineswegs von vornherein als unglaubwürdig abzutun. Allerdings sind Bergs Belege meist nicht sehr überzeugend. Denn anonyme antisemitische Briefe an jüdische Historiker, die den Holocaust thematisierten, sagen über die wissenschaftliche Rezeption ebenso wenig aus wie ein negatives Echo in der Tagespresse. Und dass Berg über die seiner Meinung nach zu Unrecht in Vergessenheit geratene Dokumentenedition von Leon Poliakov und Joseph Wulf urteilt, diese enthalte "eine[r] Art vorweggenommene[n] Goldhagen-These", ist für jene ein eher zweifelhaftes Kompliment.

Um Missverständnisse zu vermeiden: Natürlich können deutschen Vorbehalten gegen jüdische Arbeiten außerwissenschaftliche Motive zugrunde liegen. Und dass an einer Einrichtung wie dem Institut für Zeitgeschichte nicht nur Wissenschaft, sondern auch Politik betrieben wurde, gilt für die fünfziger Jahre genauso wie heute. Aber Berg verlegt sich zu oft auf Spekulationen, wenn er außerwissenschaftliche Motive auszumachen meint. Die Rezeption der angeblich zu Unrecht abgelehnten Arbeiten im Ausland hätte sich als Vergleichsmaßstab angeboten; dies - wie auch die internationale Forschung an sich - berücksichtigt Berg jedoch kaum. Ferner ist festzuhalten, dass Historiker wie Gerald Reitlinger oder Raul Hillberg keineswegs von der deutschen Geschichtswissenschaft insgesamt marginalisiert wurden. Gerade die von Berg scharf angegriffenen "Strukturalisten" sind hier als Gegenbeispiel zu nennen.

Eine radikale Neubewertung des vor allem von Martin Broszat und Hans Mommsen vertretenen "strukturalistischen" Ansatzes ist der zweite Aspekt in Bergs Studie, der Beachtung verdient. Im Allgemeinen bescheinigt man den Strukturalisten zumindest, die bis in die Mitte der sechziger Jahre allzu Hitler-zentrische Nationalsozialismus- und Holocaustforschung durch den Blick auf die Strukturen des Regimes ein gutes Stück vorangebracht zu haben, auch wenn mittlerweile auch die Schwächen dieses Ansatzes stärker betont werden. Bei Berg erscheint der "Strukturalismus" hingegen als "Mitläufer"-Interpretation, deren Anfänge in den fünfziger Jahren zu finden seien. Mommsen und Broszat hätten diese Interpretation dann lediglich akademisiert. Dass ein strukturbezogener Ansatz immer Gefahr läuft, individuelle Handlungsspielräume zu vernachlässigen, liegt auf der Hand. Aber der Gegensatz zwischen einer "richtigen" (Raul Hilberg) und einer "falschen" (Mommsen, Broszat) Version des "Strukturalismus" ist konstruiert; die Elemente, die Berg bei Hilberg lobt, finden sich auch in den Studien von Mommsen.

Durchweg gute Noten erhalten dagegen die Vertreter einer jüngeren Historikergeneration wie Götz Aly und Ulrich Herbert. Letzterer ist Zweitgutachter dieses Buches, Bergs Dissertation, ein Umstand, der das wiederholte Lob für Herbert ein wenig peinlich erscheinen lässt. Diese Randbemerkung soll jedoch nicht von der grundsätzlichen Kritik ablenken: gerade dann, wenn Berg moralische Urteile über die strukturalistischen "Apologeten" fällt, ist seine Beweisführung auffallend schwach. Wichtige Werke der Holocaustforschung werden - ob positiv oder negativ bewertet - nur sehr knapp abgehandelt. Insofern bleibt Bergs Studie teilweise recht oberflächlich - angesichts eines Umfangs von 660 Textseiten ein erstaunlicher Umstand.

Titelbild

Nicolas Berg: Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung.
Wallstein Verlag, Göttingen 2003.
766 Seiten, 40,00 EUR.
ISBN-10: 3892446105

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