Sexualisierung des Volkskörpers

Britta Lange schreibt in ihrem Buch "Einen Krieg ausstellen" über die Auswüchse der deutschen Kriegspropaganda

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kaum zu glauben, aber wahr. Es gab eine Zeit, in der tausende Deutsche in Volksfeststimmung zusammenströmten, um Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg zu "nageln". Das war 1915. Es geschah am helllichten Tag, um die "Heimatfront" im Ersten Weltkrieg bei Stimmung zu halten und Geld für patriotische Spendenaktionen zu sammeln. Ein Plakat verkündete reißerisch: "Der eiserne Hindenburg von Berlin. Nagelung täglich. Auch in der kalten Jahreszeit. Bei schönem Wetter Militärkonzert."

Ein schlechter Sado-Maso-Witz? Keineswegs: Man gründete dazu sogar eine Stiftung namens "Nationalgabe", deren Ehrenpräsidentschaft Hindenburg höchstselbst übernahm. Als besondere Ehre durfte er sich ab September 1915 in Gestalt eines zwölf Meter hohen und (ungenagelt) sechsundzwanzig Tonnen schweren Holzkolosses, den man am Berliner Reichstag vor der (damals noch dort befindlichen) Siegessäule aufstellte, täglich von den Volksmassen "nageln" lassen.

Der skurrile Brauch der kollektiven "Nagelung", bei der ein hölzerner Symbolgegenstand zur Weihe voller Eisennägel geschlagen wurde, entstammte den abergläubischen Untiefen des Spätmittelalters und wurde in der Frühphase des Ersten Weltkriegs in ganz Deutschland plötzlich wieder Mode: "Das Ritual [...] erinnerte an einen Opfergang oder eine mythische Kraftübertragung, in der die Heimatfront das Bild eines Kriegers zusammennagelte, der sie an der Feldfront verteidigen sollte. Die kollektive Handlung erzeugte das Abbild einer wehrhaften Volksgemeinschaft", erläutert die Kulturwissenschaftlerin Britta Lange in ihrer knappen und informativen Monographie über Kriegsausstellungen in jener Zeit.

Langes Buch schildert die bizarren Inszenierungen und grotesken Auswüchse der deutschen Kriegspropaganda nüchtern und sachlich. Ihre Dokumentation ist faktengesättigt und auf intensive Quellenrecherchen gestützt. Sie lässt die Abgründe rassistischer Feindstereotypisierungen, Gewaltverherrlichungen und Sexualisierungen des "Volkskörpers" ganz von allein vor den Augen des Lesers plastisch werden, ohne sich zu weitschweifigen Kommentaren und langatmigen Interpretationen genötigt zu sehen.

Den Hauptteil der Studie nimmt ein beschreibender und durch historische Abbildungen unterstützter Rundgang durch die im Januar 1916 in Berlin eröffnete "Deutsche Kriegsausstellung" ein. Eroberte und zerstörte 'feindliche' Geschütze stellten damals große Attraktionen für die Daheimgebliebenen dar. Die ausgestellten Waffen sollten einerseits die Gefahr des modernen Krieges anschaulich machen und andererseits die angebliche technische Überlegenheit der deutschen Kampfkraft unterstreichen.

Lange zeigt, wie die neuartigen Waffen und Geschütze in der kollektiven, durch die Ausstellungskommentare gesteuerten Wahrnehmung zusehends personifiziert wurden. Dies demonstriert die propagandistische Kompensierung der seinerzeit schockhaft eingetretenen Modifizierungen der modernen Kriegsführung: Der Tötungsvorgang, dem plötzlich bisher nie dagewesene Massen von Menschen zum Opfer fielen, wurde zusehends mit der sachlichen und verharmlosenden Sprache der Technik beschrieben. Verwundete und Tote wurden in den Kriegsausstellungen weder gezeigt noch erwähnt, dafür aber Kanonen mit putzigen Namen wie "Dicke Bertha". "Die Waffe schien an der Stelle des Menschen zu handeln, zu sprechen oder gar zu fühlen - ,die guten Maschinen laut schreiend, stöhnend und fauchend'." Hier manifestiert sich eine sprachliche Sexualisierung des durch die Verheerungen monströser Artillerie bestimmten Kriegs, die Arno Schmidt einmal kurz und bündig mit der Wendung "Arse=Tillery + Säcksuallität" umschrieben hat.

Menschen tauchten in den Kriegsausstellungen nur als stereotypisierte Feindbilder in Gestalt von Wachsfigurengruppen auf, die die Uniformen der "feindlichen" Formationen trugen und in nachgestellten 'alltäglichen' Frontsituationen gezeigt wurden. Auch hierin verbarg sich eine eigentümliche Untoten-Nekrophilie: "Die Wachsfiguren waren aus leblosem Material so gestaltet, dass sie möglichst lebensecht erschienen. Sie bedienten sowohl das Bedürfnis der Heimatfront nach einer lebendigen Anschauung der Kriegsgegner als auch das militärische Ziel ihres tatsächlichen Todes. So waren die ausgestellten Feinde weder lebend noch tot", bemerkt Lange treffend.

Dieses bizarre Zombie-Weltbild trat 1916 im ideengeschichtlichen Gefolge des Phänomens der lukrativen Massenattraktionen von Wachsfigurenkabinetten sowie Kolonial- und Völkerkundeausstellungen auf, in denen schon früh "anthropologische Rassetypen" konstruiert werden sollten. Solche Inszenierungen waren seit den 1880er-Jahren überaus populär geworden, als das Deutsche Kaiserreich in die aktive Kolonialpolitik eingetreten war.

Im Ersten Weltkrieg schürte die deutsche Kriegspropaganda die kollektive rassistische Häme gegenüber den "minderwertigen Hilfsvölkern", mit denen die "Feinde" gegen Deutschland antraten, um so stärker: "Unter den Russen fällt der mongoloide Typ auf. Man wird Stunden darauf verwenden können, diese Proben des großen Menschen-Mischmasch, den unsere Feinde gegen uns ins Feld geführt haben, zu studieren", zitiert Lange einen triumphierenden Zeitungskommentar zur Hamburger Kriegsausstellung von 1916.

Auch der für den Ersten Weltkrieg nach dem schnellen Erstarren der Fronten so charakteristische, mörderische Stellungskampf in den Schützengräben erreichte die 'Heimat' bald, wie Lange im letzten Teil ihres Buches dokumentiert. Man zeigte Miniatur-Nachbildungen von Schützengräben und baute sie sogar im Maßstab eins zu eins nach, damit die Ausstellungsbesucher und -besucherinnen darin umhergehen und "nachfühlen" konnten, wie der Alltag der Kämpfer aussah: "Sogar Schützengräben mit Drahthindernissen und Unterständen wurden dem Großstädter, dem ja nichts Menschliches fremd bleiben durfte, zur Schau gestellt [...], und manche der biederen Besucher meinten, nunmehr das Leben der Frontsoldaten aus dem Grunde zu verstehen und beneideten ihn wohl um seine reichliche Verpflegung, die die Kriegsausstellung in einer Abteilung vorgewiesen hatte", heißt es in einem von der Autorin zitierten historischen Kommentar.

Britta Langes Buch leistet in seiner informativen Kürze einen erstaunlich weitreichenden Beitrag zur Aufhellung der kulturhistorischen Hintergründe der Kriegsausstellungen, die einerseits als Propagandamedium eingesetzt wurden, um die "Heimatfront" auf die eliminatorische Kriegsideologie einzuschwören, und andererseits eine wichtige Einnahmequelle für das Deutsche Rote Kreuz darstellten, das damit im Dunstkreis der mörderischen Staatsmacht eine alles andere als kriegsverhindernde, durchaus frivole Rolle spielte.

Langes Band gibt wichtige neue Einlicke in kulturelle und gesellschaftliche Zusammenhänge der Geschichte des Ersten Weltkriegs sowie der deutschen Museums- und Ausstellungsgeschichte, die eben auch eine Geschichte der Mordpropaganda ist. Die Skurrilität des Horrorkabinetts, das sich hier auftut, macht die Monographie paradoxerweise sogar zu einer vergnüglichen Lektüre, bei der dem Leser das Lachen jedoch schnell im Halse stecken bleiben kann.

Titelbild

Britta Lange: Einen Krieg ausstellen.
Verbrecher Verlag, Berlin 2003.
128 Seiten, 13,00 EUR.
ISBN-10: 3935843208

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