Salomos weiser Erbe

Ralf Rothmann überzeugt durch selbstironische Zwischentöne

Von Stefanie HauckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie Hauck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Mittelpunkt des neuen Romans von Ralf Rothmann steht der zwanzigjährige Louis, ein überaus scheuer, aber charmanter Zeitgenosse. Er ist kein Angehöriger jener vielbeschriebenen Generation X, die den Nihilismus auf ihre Fahnen geschrieben hat, im Gegenteil: Louis wirkt vielmehr wie einer der letzten Idealisten seiner Generation, der den Glauben an Liebe und Wahrhaftigkeit noch nicht verloren hat, ein "einsamer Wolf", wie ihn seine Mutter Mary treffend charakterisiert.

Das Buch beschreibt im wesentlichen nur einen Tag in Louis' Leben, den er mit seiner Mutter in der Wohnung eines Freundes verbringt. Durch Rückblicke und Reflexionen des feinsinnigen Protagonisten wird dem Leser ein Reifeprozess vor Augen geführt, an dessen Ende Louis seine pubertären Selbstzweifel überwindet. Auch wenn Louis ein intaktes Familienleben nie erlebt hat, so spielen die Eltern trotzdem eine wichtige Rolle. Schließlich ist es seine Mutter, die den Ausschlag gibt, dass sich Louis zu seiner molligen Freundin Vanina bekennt.

Aufgewachsen ist er bei seinen Großeltern, denn seine Mutter saß sechs Jahre wegen einer dummen Geschichte in einem Schweizer Gefängnis. Sie hatte sich hochschwanger dazu bereit erklärt, für einen drogenabhängigen Freund dreizehn Kilogramm Heroin von Mexiko über die Schweizer Grenze zu schmuggeln. Ihre außergewöhnliche Biografie bildet das Mittelstück des Romans. Sie erzählt von ihrem bewegten Leben und von dem ersten Zusammentreffen mit Louis Vater, den sie Mitte der siebziger Jahre nach einer Demonstration für Reaktorsicherheit auf einem Polizeirevier kennengelernt hat. Diesem seltsamen Zufall verdankt Louis seine Existenz, und so bezeichnet er sich selbst, nicht ohne Ironie, als ein "Polizeikind". Das einzige, was die Eltern miteinander verbindet, ist ihre rebellische Vergangenheit - ihre Gegenwart könnte unterschiedlicher nicht sein. Der Vater, von Louis "Big Daddy" genannt, ist Chef einer Werbeagentur, Mary ist ständig unterwegs und bringt sich mit Gelegenheitsjobs über die Runden.

Bei aller Bewunderung für die Stärken und ungeachtet seiner Nachsicht für die Schwächen seiner Eltern hat Louis ihnen einiges an Weisheit voraus und ist überzeugt, "hätten meine Eltern mich großgezogen, wäre ich jetzt Alkoholiker oder Junkie oder Skinhead - aus Trotz." Er ist sich sicher, die Generation sei "einfach nicht dazu gemacht, Nachwuchs zu haben. Kinder sind nämlich verdammt konservativ, die wollen klare Verhältnisse." So ist es auch immer wieder das Kind, das versucht, eine Familie zusammenzuführen, die es eigentlich nie gegeben hat.

Rothmann macht in seinem Roman also das Dilemma einer Generation deutlich, deren einstige Kampfansage gegen das Establishment sich in ihr Gegenteil verkehrt hat und die resigniert feststellen muss, daß sie die Gesellschaft nicht wirklich verändern kann.

Der Titel "Flieh, mein Freund!" ist einem Vers aus dem Hohelied entlehnt. Dem Roman wie der biblischen Vorlage ist die zarte Poesie gemein, in der sich die Sehnsucht nach Aufrichtigkeit und Liebe ausdrückt. Ralf Rothmann gelingt es, seinen jungen, liebenswerten Protagonisten glaubwürdig darzustellen. Es ist auch weniger Louis' Biographie - oder die seiner Eltern - die es vermag, den Leser in seinen Bann zu ziehen, sondern es sind Louis' erfrischend originelle Gedankengänge und seine immer wiederkehrenden selbstironischen Untertöne, die den Roman zu einem Erlebnis machen.

Titelbild

Ralf Rothmann: Flieh, mein Freund!
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1998.
280 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3518409867

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