Eingecremte Hintergründe

Über Jim Avignons Werk "Welt und Wissen"

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Ding sieht tatsächlich aus, wie ein dtv-Atlas. Roter Einband, innen mit zweispaltigem Schriftbild plus typischer Layout-Merkmale wie Fettungen, Namen in Kapitälchen und Zeilensprung. Vorne drauf steht dann auch noch großspurig "Band 1" zu lesen. Aber das ist natürlich alles Fake, denn das gesamte Weltwissen passt hier tatsächlich auf knapp 180 Seiten. Weitere Bände wird es also wohl nie geben. Illustriert ist das Ganze mit vielen farbigen Bildern Jim Avignons und wartet mit einer Reihe von Artikeln zu den Lemmata "Anatomie" bis "Wirtschaft" auf, die alle möglichen Autorinnen und Autoren aus dem Dunstkreis des Berliner Verbrecher Verlages verfasst haben.

Das sind Satiren auf wissenschaftliche Texte, Lexikonartikel-Parodien oder auch nur nette Geschichtchen, die teils bloß mittelbar etwas mit dem behandelten Thema zu tun haben können und dem Unternehmen gerade so erst seinen charakteristischen Reiz vermitteln. Da stößt man etwa auf den Artikel "Mathematik", den der Berliner Journalist und Schriftsteller Kolja Mensing verfasst hat. Hier wird die rätselhafte und traurig ausgehende Geschichte von Jago Twink erzählt, der sich bereits in der Grundschule ohne genaueres Wissen über das, was sich hinter dem Begriff überhaupt verbirgt, entscheidet, Mathematiker zu werden. Vor allem, um das Herz der unnahbar schönen Rosa Wiegenberg zu gewinnen. Das mit Rosa klappt in den folgenden Jahren irgendwie nicht so ganz, aber Jago dringt dafür immer tiefer in die Geheimnisse der Mathematik, nun ja, ein: scheinen ihm diese doch auf dubiose Weise mit der geheimnisvollen Welt der Frauen in Zusammenhang zu stehen.

Eines bedeutungsschwangeren Tages raubt ihm eine massige russische Kommilitonin namens Ludmilla Wirakowskaja in der mathematischen Bibliothek der Uni brutal die Unschuld: "Wir müssen wohl von einem zweiten schicksalsträchtigen Wendepunkt in Jago Twinks Leben sprechen. Nachdem er sich im Anschluss an diesen abscheulichen Vorfall einige Wochen lang in seiner Kammer in die alte Logharithmentabelle versenkt hatte, die ihm schon früher in dunklen Momenten Trost gespendet hatte, löste er anschließend in kürzester Zeit mit fast aggressivem Eifer ein Problem, das bei Hadamards und Vallée-Poussins Beweis des Primzahlsatzes auffällig geworden war...".

Und in dem Sound geht das dann weiter - wie es ausgeht, sollte man vielleicht besser selbst nachlesen. Dann kann man sich also hinsetzen und in Mußestunden immer wieder andächtig nach seinen Lieblingsartikeln in einem Buch suchen, das von der Welt zeigt, "was wir wissen und mehr" (Klappentext). Ganz so, wie es einst Arno Schmidt emphatisch beschrieb: "- ich erinnere mich noch genau, wie er endlich die langersehnte, 32=bändige Dünndruckausgabe der ‹Encyclopaedia Britannica› von 1926 erhielt (und sie stand 2 Monate bei ihm auf dem Schreibtisch; ich fürchte, er hat während der ganzen Zeit nichts getan, als mit gefalteten Händen davor zu sitzen, und einzelne Lieblingsartikel nachzuschlagen: über das Buch Mormon; die Insel Tristan da Cunha; Horrox aus Hoole - der 1639 aus Versehen einen Venusdurchgang auf der Sonnenscheibe beobachtet hatte, und er konnte richtig aufgeregt werden, wenn er auf das Thema zu sprechen kam".

Freilich lauten die Themen im Extrem-Digest "Welt und Wissen" meist anders, nämlich viel lapidarer, weniger exotisch und oft auch viel weniger erotisch. Beispielsweise "Wirtschaft", erklärt von den Autorinnen Ira Strübel und Kathrin Passig: "Börse: Nicht geheuer. Eine Menge Männer mit zu hohem Blutdruck und Schweißflecken unter dem Arm rufen eine Menge unverständliches Zeug und machen dazu eine Menge obszöner Gesten. Dann klingelt es, plötzlich liegt die Weltwirtschaft im Koma und am Schluss war's wieder keiner." Das ist einfach gut getroffen.

Nett ist beispielsweise auch der Beitrag zum Thema "Architektur", von Fehmi Baumbach, der die weltbewegende Frage diskutiert, ob überhaupt "jemand in dem geschmacklos eingerichteten Haus von Michael Cretu auf Mallorca wohnen" möchte? "Man könnte riesige Polterabende veranstalten und die unzähligen Porzellan-Tiger und goldenen Rokoko-Vasen zerdeppern. Michael Cretus unsympathisches Lächeln passt bestens zur Insel der debilen Eimersauger, Enigma und Sandra beseitigen die letzten Zweifel. Äußerlich gleicht Cretus Wohnsitz dem eingecremten Hintergrund auf Promofotos von Siegfried & Roy. Nein, nur der Wahnsinn treibt uns in solche Örtlichkeiten."

Logischerweise ist nicht jeder Eintrag dieses 'Lexikons' gleich lustig oder spannend, aber das ist ja in den 'richtigen' Nachschlagewerken, sei es die "Encyklopaedia Britannica", der gute alte "Pierer" oder der schnöde "Brockhaus", auch nicht anders. So rügen die Herausgeber ihren Beiträger Hartmut Richard Friedrich Ziegler im Autorenverzeichnis vorsichtshalber gleich selbst: "Seine erste Veröffentlichung (in diesem Band) verdient die Note Thema verfehlt, da er dtv-Atlas mit Was-ist-Was Buch verwechselt hat."

Bleibt noch etwas zu den Bildern Jim Avignons zu sagen. Der gebürtige Tscheche absolvierte eine Ausbildung als Weichensteller laut Anhang nur halb, trieb sich in Frankreich herum und begann schließlich, in Avignon zu malen. "Schnell entwickelt er eine persönliche Handschrift, die ihn danach nie wieder verlässt", stellt der Band den unscheinbaren Glatzkopf vor: "mit knappem Strich und knalligen Farben übersetzt er das Chaos des modernen Daseins in angriffslustige Bilder, in denen sich die Welt scheinbar ganz von selbst erklärt."

In der Tat übt Avignons malerisches Schaffen in seiner bewusst forcierten Naivität eine ganz eigene Faszination auf den Betrachter aus. Avignons Kunst bewegt sich irgendwo zwischen Kindergarten, Comic-Mengenleere und Kapitalismuskritik. Damit das auch jeder kapiert, schreibt er es - meist auf Englisch - auch noch in großen knalligen Lettern in seine Bilder hinein.

Man mag davon halten, was man will - in "Welt und Wissen" ergibt es zusammen mit dem krausen Sammelsurium verschiedenster Texte zu den alltäglichen Rätseln und Mysterien der spätkapitalistischen Gesellschaft eine gelungene Collage: Ist es Wissenschaftssparodie, ist es totaler Nonsens oder nicht doch auch alles einfach wahr? Der kunterbunte Band ist, das muss man sagen, einfach schön gemacht und regt immer wieder zum Blättern und Betrachten an. Wahlweise auf dem Klo oder im Studierzimmer.

Titelbild

Jim Avignon: Welt und Wissen. Bilder und Geschichten.
Verbrecher Verlag, Berlin 2003.
160 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-10: 393584316X

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