Allzweckheilmittel Fußball

"Das Wunder von Bern" von Christof Siemes

Von Stephan SonntagRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Sonntag

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Der Ball ist rund, und ein Spiel dauert neunzig Minuten". Klar, alte Sepp Herberger-Weisheit, doch in Wirklichkeit stammt sie von der Putzfrau des Hotel Belvedere, in dem die deutsche Nationalmannschaft während der Fußballweltmeisterschaft 1954 residierte. Herberger hat sie lediglich bei der Pressekonferenz am nächsten Tag öffentlich gemacht. Nicht nur aufgrund dieser angeblich "historischen Tatsache" ist "Das Wunder von Bern" zwar ein Heldenepos, eine Fußballode, darüber hinaus aber auch ein Familiendrama und nicht zuletzt ein 'Frauenbuch'.

Dennoch zunächst ist einmal Vorsicht angebracht, schließlich handelt es sich bei diesem Werk um das Buch zum gleichnamigen Film von Sönke Wortmann. Liefert "Zeit"-Redakteur Christof Siemes lediglich einen besseren Merchandiseartikel ab oder stellt dieses Buch doch eine sinnvolle Ergänzung, Vertiefung und Verstärkung des Films dar? Letzteres ist hier zweifelsohne der Fall, denn Siemes ergänzt die filmische Handlung mit Innenansichten aller wichtigen Personen. Im Anhang des Buches finden sich zudem ein historischer Abriss der Weltmeisterschaft mit ausführlichen Statistiken sowie die Lebensläufe der zwölf deutschen Helden.

Der wahre Held der Geschichte ist aber der elfjährige Matthias Lubanski aus Essen. Der Stadt, in der auch Helmut Rahn, Matthias' großes Idol und Ersatzvater, dem er zu jedem Training die Tasche mit den Fußballschuhen tragen darf, lebt und Fußball spielt. "Ich gewinn' nur wenn du dabei bist. Dann kann ich die ganz engen Spiele noch umbiegen", sagt der "Boss" zu seinem "Köttel", kurz bevor er ins Trainingslager der Nationalmannschaft abreist. Fortan ist der Junge von seinem Maskottchenstatus überzeugt.

Dann kehrt überraschend Matthias' Vater Richard Lubanski nach zwölf Jahren aus der russischen Kriegsgefangenschaft zurück und droht mit seinem Selbstmitleid die Familie zu zerstören. Der Krieg hat ihn zu einem verschlossenen Disziplinfanatiker gemacht, der seine Kinder schlägt ("Ein deutscher Junge weint nicht!") und seinen ältesten Sohn Bruno zur Flucht aus dem elterlichen Heim treibt.

Auf der zweiten, eher komödiantisch angelegten, Erzählebene wird der ambitionierte Sportjournalist der "Süddeutschen Zeitung" Paul Ackermann von seinem Chef in die Schweiz geschickt, um über die deutsche Elf während der Weltmeisterschaft zu berichten. Seine attraktive und diskussionsfreudige Frau Annette begleitet ihn und entwickelt sich mehr und mehr zur einzig wahren Fußballexpertin. Ihr weibliches Auftreten in der Männerdomäne treibt Paul manchmal an den Rande des Wahnsinns, doch selbst Sepp Herberger kann ihrem Charme nicht widerstehen und plaudert im Interview ein wenig mehr aus, als bei den Journalistenkollegen.

Zum Endspiel im Berner Wankdorf-Stadion treffen neben Deutschland und Ungarn, die beiden Episoden, wenn auch nur für einen Moment, aufeinander. Der durch geistlichen Beistand und natürlich den Fußball "geläuterte" Richard Lubanski ist mit Matthias in die Schweiz gefahren, schließlich kann Deutschland ja nicht ohne den Jungen gewinnen. Kurz vor dem entscheidenden Rahnschuss zum 3:2-Sieg sieht nicht nur Annette Ackermann, sondern auch Helmut Rahn den Knirps an der Seitenlinie stehen. Der Rest ist Geschichte, der Mythos vom "Wunder von Bern".

Ob rührend oder kitschig, ob idealistisch oder naiv, der Fußball ist hier jedenfalls das Allheilmittel für jede Lebenslage. "Irgendeine unbekannte Macht" zwingt Richard Lubanski das Fußballstrohgeflecht in die Luft zu bolzen und per Fallrückzieher in die Maschen zu hauen. Durch diese Erlösung kann er erstmals seiner Familie von den Geschehnissen im Krieg und in der Gefangenschaft berichten; seine persönliche Wandlung vollzieht sich. Auch die Ereignisse um die Fußballnationalspieler sind geprägt von der "Elf Freunde müßt ihr sein"- Ideologie Sepp Herbergers. Der Fußball schweißt nicht nur die Akteure auf dem grünen Rasen, sondern auch die Journalisten der konkurrierenden Blätter und nicht zuletzt eben auch die Familie Lubanski wieder zusammen. Ein Ball, ein Spiel, ein Team, eine Familie, ein Volk.

Doch man muss nicht unbedingt an diese enorme Integrationskraft des Fußballs glauben, muss nicht schon bei Herbert Zimmermanns' Stimme eine Gänsehaut verspüren oder bei Rahns zweitem Tor die Tränen in den Augen stehen haben, um Gefallen an diesem Buch zu finden. Das Pathos zerstört nicht die bewegende Geschichte.

Titelbild

Christof Siemes: Das Wunder von Bern. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003.
315 Seiten, 8,90 EUR.
ISBN-10: 3462033433

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