Mörderische Karrieren

Über Andrej Angricks Werk "Besatzungspolitik und Massenmord"

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Über keine historische Epoche ist so viel geschrieben worden, wie über den Zweiten Weltkrieg. Dennoch sind die Lücken in der Erforschung des zentralen Verbrechens dieses Krieges, der Vernichtung der europäischen Juden, immens. Die persönlichen Schicksale der Opfer und die konkreten Beweggründe der Täter wurden in der Geschichtswissenschaft oft nur schemenhaft skizziert. Sie verschwanden lange hinter der funktionalistischen These einer "kumulativen Radikalisierung" der Massenmorde (Hans Mommsen). Demnach sollte die "Endlösung der Judenfrage" den komplexen Machtstrukturen des nationalsozialistischen Staates entsprungen sein: Der größte Genozid der Weltgeschichte sei keinem Masterplan gefolgt, sondern vielmehr schrittweise improvisiert worden.

Andrej Angricks Studie über die Einsatzgruppe D rückt dagegen die Sozialprofile der Täter in den Fokus der Untersuchung. Die Bedeutung der alten Forschungskontroverse zwischen Funktionalisten und Intentionalisten verliert dabei, wie auch schon in Peter Longerichs umfassender Gesamtdarstellung "Politik der Vernichtung" (1998), zusehends an Bedeutung. Angrick entlarvt das Vorhandensein eines gesetzgebenden "Endlösungsbefehls" von "ganz oben" als Entlastungslüge der Täter. So machte der längstamtierende Anführer der Einsatzgruppe D, Otto Ohlendorf, diese Behauptung zum Kern seiner Verteidigungsstrategie in den Nürnberger Prozessen. Während der geschickte Taktiker Ohlendorf entgegen seiner Erwartungen zuletzt dennoch als einer der wenigen zum Tode verurteilt und 1951 in Landsberg hingerichtet wurde, kamen die meisten seiner Kollegen und Untergebenen straffrei davon und machten in der Bundesrepublik unbehelligt Karriere.

Angricks Studie erinnert daran, dass es entscheidungsmächtige Individuen waren, die es bewusst in Kauf genommen hatten, zu Organisatoren und Ausführern der Massenmorde zu werden, um in der NS-Hierarchie aufzusteigen. Ihre ehrgeizige und dadurch immer radikalere Auslegung der "Sicherheitsbestimmungen" und des "Kommissarbefehls" zur Eliminierung "suspekter Elemente" im rückwärtigen Frontgebiet des Russlandfeldzuges genügte vollkommen, um die Vernichtungsaktionen eskalieren zu lassen.

Die Einsatzgruppe D, verantwortlich für nachrichtendienstliche Ermittlungen und genozidale "Gegnerbekämpfung" in der südlichen Sowjetunion, bestand zu Beginn ihrer Tätigkeit aus nur etwa 600 bunt zusammengewürfelten Personen. Sie vergrößerte sich bis zu ihrer Auflösung im Mai 1943 nur unwesentlich und organisierte die Judenvernichtung in einem Gebiet von riesiger Ausdehnung. "Die Dimensionen, in welche die Einsatzgruppe D dabei vorstieß, und zwar sowohl im Hinblick auf die Zahl der Opfer als auch die geographische Weite des Raumes, erschien mir kaum vorstellbar", schreibt Angrick über den Ausgangspunkt seines Forschungsprojektes. Wohl noch nie in der Geschichte hätten "so wenige Menschen willkürlich über das Leben so vieler anderer entschieden, sie ermordet und gequält", spitzt Angrick abschließend in seinem Nachwort zu.

Ähnlich wie schon Daniel Jonah Goldhagen in "Hitlers willige Vollstrecker" (1996) beschreibt Angrick die Massenexekutionen detailliert. Schließlich gehöre auch die Art des Mordens zur "wahren Geschichte" und sage mitunter mehr über die Täter als Gruppe aus, als ihre nachträglichen Schutzbehauptungen eines "Befehlsnotstands", die lange auch die Historiographie beeinflussten, schreibt der Historiker.

Angricks Studie stützt sich dabei trotz des Verlustes der meisten zeitgenössischen Akten und Papiere aus dem Schriftverkehr der Einsatzgruppen auf die akribische Auswertung einer beeindruckenden Quellenfülle. Wie schon in den wegweisenden Studien Goldhagens, Christopher Brownings und Ralf Ogorrecks greift Angrick zur konkreten Beschreibung der Massenmorde größtenteils auf Prozessakten zurück. Die Biographien und Karrierewege der einzelnen Täter rekonstruiert er vor allem aus den Personalakten des Berlin Document Center (BDC), hat aber auch zahlreiche andere Archive im In- und Ausland konsultiert.

Die Studie verfolgt den Lauf der Ereignisse entlang des Russlandfeldzuges chronologisch. 1940 beorderte das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) seinen Führernachwuchs in ein Barockschloss der Stadt Pretzsch an der Elbe zu einem Lehrgang, der zunächst weitgehend im Dunkeln ließ, was auf die Beteiligten zukam. Schnell wurde jedoch klar, dass ihr Hauptziel die totale Vernichtung aller Juden im Einsatzgebiet war. Von Kleinbürgern, biederen Polizisten, Veteranen aus dem Ersten Weltkrieg bis hin zu promovierten Wissenschaftlern, Juristen und anderen zielstrebigen Karrieristen reichte das Sozialprofil der Männer, die sich an den Verbrechen beteiligten. In einem selbstverfassten Gedicht ließ ein Angehöriger des Polizeireservebataillons 9 den Einsatz an einem Kameradschaftsabend im Januar 1942 Revue passieren: "So tobt der Kampf an allen Fronten / Wir waren überall dabei / Und zeigten gerne was wir konnten / Und nicht ein Einzger schoß vorbei."

Angricks Stil ist nüchtern. Die unüberwindbare Kluft zwischen den vom Historiker sachlich darzustellenden Ereignissen und der Monströsität der Verbrechen, deren angemessene sprachliche Vermittlung unmöglich erscheint, zeigt sich hier deutlich. Der berühmte Historiker Saul Friedländer schrieb zu diesem Dilemma einmal: "Um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen: Der Historiker kann nicht anders vorgehen [...]. Die beschriebenen Ereignisse sind es, die ungewöhnlich sind, nicht das Vorgehen des Historikers. Wir stoßen mit unseren sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten an eine Grenze. Andere haben wir nicht."

Der Leser erschaudert dennoch, wenn er verfolgt, wie bruchlos die Metamorphose "ganz normaler Männer" zu Massenmördern offenbar erfolgen konnte - und wie bizarr es anmutet, ihre Taten auf hunderten von Seiten in sich zunehmend verfestigenden, immergleichen Abläufen lesen zu müssen. Die Mitglieder der Einsatzgruppe D brachte zur "Befriedung" der Besatzungsterritorien in der Ukraine, auf der Krim und im Kaukasus nicht allein Juden, sondern schlicht so gut wie jeden um, der ihnen in irgendeiner Weise 'supekt' erschien. Der "Vernichtungsdrang, als Kriegsnotwenigkeit begründet, richtete sich auch gegen Menschen, die nach den antisemitischen Mordkriterien zunächst überlebt hätten, die aber als Wanderer, also "Asoziale", galten, gegen Zigeuner, die a priori "verdächtig" erschienen, oder Personen, die über zuviel Lebensmittel verfügten und dadurch zu "Hamsterern" wurden", erläutert Angrick.

Kommunisten und versprengte Soldaten der Roten Armee, die von der Truppe aufgegriffen oder in eroberten Dörfern angetroffen wurden, mussten sicher mit ihrer Erschießung oder Ermordung in den berüchtigen "Gaswagen" rechnen. Genauso wie "Intelligenzler", Akademiker, verschiedene Funktionsträger, so genanntes "Großstadtgesindel" oder hilflose Frauen und Kinder zweifelhafter "rassischer Herkunft". Kranke und nicht arbeitsfähige Menschen gehörten ebenso zu den "unerwünschten Elementen", wie angebliche "Partisanen" und wurden "entsprechend behandelt".

Angrick weist nach, dass selbstverständlich auch für die SS-Täter das Recht bestand, verbrecherische Befehle zu verweigern und sich vom Dienst an der Erschießungsgrube abstellen zu lassen. Dennoch sind solche Fälle so gut wie nie vorgekommen. Angricks Schlussfolgerung ist simpel und naheliegend: Ernsthafte Gewissenskonflikte scheinen bei dem Gros der Mörder überhaupt nicht bestanden zu haben. Die in den wenigen Nachkriegsprozessen geäußerten Befürchtungen der Angeklagten, wonach sie bestraft worden wären, wenn sie ihre Befehle verweigert hätten, erweisen sich vor dem Hintergrund der von Angrick ausgewerteten Quellen als haltlose Schutzbehauptungen.

In Folge der alltäglichen Massenerschießungen kam es partiell zu psychischen Problemen bei einzelnen Tätern, die sie nach Kriegsende skrupellos dazu zu nutzen verstanden, sich selbst zu Opfern zu stilisieren. Es kam zu so genannten "Ostkollern" und Alkoholexzessen, die die "Manneszucht" der Formationen ins Ungleichgewicht brachten. Auch berichtet Angrick von einem Täter, der 1962 vor Gericht aussagte, er sei nach einer Erschießung in einen hysterischen Streit mit dem Verwaltungschef seiner Einsatzgruppe geraten, weil dieser in den Exekutionspausen Blutwurst in Dosen als Mittagessen ausgeteilt habe - nur eine von vielen geradezu schmerzhaft absurden Szenen, auf die man in der Studie immer wieder stößt.

Die von Angrick ausgewerteten Dokumente legen nahe, dass viele SS-Männer sogar besonderen Gefallen daran fanden, "Herr über Leben und Tod" zu sein. "Du meinst wohl, du kämst jetzt gleich dran; aber da mußt du noch etwas warten", sagte etwa SS-Rottenführer Hunze, eigentlich Koch seines Kommandos, zu einem Juden, der apathisch neben seinen erschossenen Familienmitgliedern am Rande der Grube auf den "Gnadenschuss" wartete. Hunze, überhaupt nicht zum Morden verpflichtet, wollte sich das "Ereignis" einer solchen Erschießung nicht entgehen lassen und tötete den Mann zuletzt.

"Nach der Exekution, als die Grube voller Leichen war, kehrte Hunze mit blutbesudelter Küchenkleidung an seinen Arbeitsplatz zurück", schreibt Angrick lapidar. Zumindest eines begreift man nach der Lektüre dieses Buchs: dass es in letzter Konsequenz immer noch deutsche Menschen waren, die ihre Opfer umbrachten, und nicht Strukturen.

Titelbild

Andrej Angrick: Besatzungspolitik und Massenmord. Die Einsatzgruppe D in der südlichen Sowjetunion 1941-1943.
Verlag Hamburger Edition, Hamburg 2003.
796 Seiten, 40,00 EUR.
ISBN-10: 3930908913

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