Schauspielkünstlerinnenleben

Eine Anthologie über Helene Weigel

Von Frauke NowakRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frauke Nowak

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein schwergewichtiges Kompendium zu Helene Weigel steht zur Diskussion: Ihr langjähriger Mitarbeiter am Berliner Ensemble, Werner Hecht, zeichnet verantwortlich für mehr als ein Kilo Text und Bild auf nahezu 350 Seiten bester Papierqualität. Neben Originaldokumenten werden unzählige Fotos aus Arbeit und Privatleben der Weigel in hervorragender Qualität zugänglich gemacht. Aus der Perspektive des langjährigen Mitarbeiters und Vertrauten unternimmt Hecht dabei auf der Basis umfangreichen Materials die "klassische" Aufgabe einer Darstellung von Weigels "Leben und Werk". Dass sein Zugang in Teilen stark autobiographisch geprägt ist, bringt die üblichen Vor- und Nachteile mit sich.

Der Band zerfällt in vier Hauptabschnitte, an die sich einige Anhänge anschließen. Ein ausführliches Interview von 1969 leitet den Band ein. Es folgt ein dokumentarisch-biographischer Text zu Weigels Leben und Arbeit, der sehr von der persönlichen Erfahrung des Autors geprägt ist. Im dritten Teil wird in einer Art Essay Weigels künstlerischer Werdegang rekonstruiert. Der vierte Teil versammelt eine große Anzahl zeitgenössischer Kritiken und Rezensionen - gewissermaßen als Darstellung von Weigels unmittelbarer Wirkung. Zu den Anhängen zählt zuerst eine ausführliche Chronik, die alle Theaterereignisse detailliert den Lebensjahren zuordnet. Des weiteren findet sich ein Verzeichnis der unter Weigels Intendanz am Berliner Ensemble entstandenen Premieren ohne ihre schauspielerische Mitwirkung. Diskographische und filmographische Hinweise runden den Band samt Auswahlbibliographie ab. Diese Bibliographie ist allerdings erstaunlicherweise nur halb so lang wie die zum Schluss noch folgenden redaktionellen Hinweise, die der Autor seiner eigenen Arbeit hinzufügt.

Vielleicht lässt sich dieser Band am ehesten als umfangreiche Materialpräsentation zu Werk und unmittelbarem Wirken der Weigel bezeichnen. Der erste (und zweite und dritte) Eindruck: wir haben es hier mit einem umfassenden und gewissermaßen authentischen Einblick in Person und Werk dieser Schauspielkünstlerin zu tun. Und genau dies macht vorsichtig.

Der Eindruck des "Echten", der authentischen Darstellung entsteht natürlich zunächst durch die Vielzahl der Fotos. Darüber hinaus durchsetzen unzählige Zitate der Weigel und ihrer Zeitgenossen den Fließtext und begleiten den ganzen Band als umfangreiche Marginalien: ein zweispaltiges Buch sozusagen, zwei Drittel Fließtext, eine Drittelseite Marginalie, dazu noch Fußnoten, reich bebildert. Der Vorteil liegt auf der Hand: Personen und Begebenheiten, die im Text auftauchen, können durch Fotos oder andere Dokumente am Seitenrand kurz erläutert werden bzw. geben durch ihre Zitate über sich selbst oder die Situation weiteren Aufschluss. Das ganze Buch lässt sich wie ein aufwendiges "Bilder-Buch" lesen, wobei auch die Schriftstücke den Status des Ikonischen bekommen. Es findet gewissermaßen permanent von der Seite her eine inhaltlich-authentische Unterfütterung und Prägung des eigentlichen Textes statt. Zusammen mit der Tatsache, dass der Autor als langjähriger Mitarbeiter Weigels am Berliner Ensemble tätig war, entsteht ein weiterer "Realitätsbonus": wird doch durch den persönlichen Kontakt darüber hinaus gewissermaßen die Authentizität aller Informationen verbürgt. Dazu ist er ein Mann "vom Fach", der als Regisseur (nicht: als Schauspieler) mit und unter Weigels Intendanz gearbeitet hat. Ein Band, der gewissermaßen vor "Echtheit" und persönlicher Erfahrung nur so strotzt - und damit, abgesegnet durch ein Vorwort des großen Siegfried Unseld und in solidester Druckqualität gefertigt, eine Autorität gewinnt und einnimmt, die ein sorgfältiges Lesen und Bedenken erfordert.

Der Eindruck von Charakter und Arbeit dieser bedeutenden Künstlerin, die durch Hechts Darstellungsweise zweifelsohne hervorgerufen wird, ist einer der großen Vorzüge des Buches. Man hat ständig das Gefühl, dass Weigel selbst zur Sprache kommt, man sieht diese vitale, schlaue, listige Person, eine politische Künstlerin mit Leib und Seele, sozusagen permanent vor sich. Aber die Dominanz des Autors und seiner "Erfahrung" nimmt Interpretationen vor, die als solche nicht mehr thematisiert werden (können). Zum Beispiel ist man geneigt, bei so viel sprühender Lebendigkeit von Weigel (das köstliche, ausführliche Interview zu Beginn und immer wieder Theaterfotos!) unausgewiesene und vernebelnde Interpretationsmuster wie das von der "typisch weiblichen Seele" (wenn man es denn so nennen will) zu überlesen.

Besonders im zweiten Abschnitt schimmert dieser unselige Interpretationsansatz immer wieder durch: unselig deshalb, weil damit versäumt wird, dem scharfen politisch-künstlerischen Bewusstsein der Weigel gerecht zu werden und ihrer Denkweise zu einer klaren Darstellung zu verhelfen. Hecht wählt unter dem Titel "Die Kennerin der Wirklichkeit" seine langjährige Arbeitsbeziehung zu Weigel, seine Gespräche mit ihr als Ausgangspunkt der Darstellung ihres Lebens und Werkes. Durch den autobiographischen Zugang entsteht natürlich ein lebendiger Eindruck von Weigel. Letztlich haben wir es hier aber mit einer weitreichenden Deutung von Weigels Persönlichkeit zu tun, die auf objektive Geltung spekuliert. Die Technik, persönliche Erinnerungen mit einem Maximum an Fakten nachträglich zu unterfüttern, lässt auch irreführende Deutungen als "Wahrheit" erscheinen. So zum Beispiel, wenn Hecht über das vielfältige, der Theaterarbeit vordergründig völlig fremde Engagement von Weigel berichtet, als einst Kinderschuhe und Babynahrung von ihr bemängelt wurden und fundierte Verbesserungsvorschläge folgten: "[I]hr Vorstoß [sorgte] in den zuständigen Ministerien und in den Industriebetrieben für erheblichen Aufruhr. Wochenlang kamen im Berliner Ensemble neue Warenmuster an. Sie ließ sie durch junge Mütter testen oder vorkosten. Ich hatte den Eindruck, dass sie zu solchen Zeiten immer besonders glücklich war." Die typisch-weibliche Seele findet zu ihrer Erfüllung? Wie schön.

Hecht verfolgt das Ziel, einen unverwechselbaren künstlerischen Charakter in der ganzen Bandbreite seines Daseins darzustellen. Durch diese Fragestellung werden aber wichtige Fragen ausgebremst. Eine Einschätzung der Wirkung Weigelscher Arbeit im Staatsgefüge der früheren DDR fehlt ebenso wie ein explizite Auseinandersetzung mit ihrem künstlerisch-politischen Ansatz, dessen lebendige Wurzeln immerhin in die Zeit der Weimarer Republik zurückreichen. Die spezifischen Probleme der Theaterführung mit staatlich kontrollierter Kunstausübung und Stasimacht werden bei Hecht zwar angesprochen, nicht jedoch der politische Rahmen selbst noch einmal reflektiert. Die Winkelzüge um die Herausgabe der Brechtschen Schriften in beiden deutschen Staaten, in die Hecht hautnah verwickelt wurde, verbleiben im Käfig persönlicher Erinnerung. Eine Einordnung der Weigel und ihrer Arbeit in eine gemeinsame deutsch-deutsche politische Vergangenheit bleibt sogenannten "gebildeten Lesern" überlassen - oder erfolgt direkt als Anhängsel zum Phänomen Brecht.

Die umfangreiche Materialpräsentation zu Helene Weigel bietet dennoch einen ausbaufähigen Ansatz, die Schauspielerin Helene Weigel als außerordentliche Künstlerin wahrzunehmen. Ihrer Auffassung von Schauspielkunst als einer Kunst, die in der Lage ist, den Menschen als Menschen zu inszenieren und durch kalkulierte Wirkungen die "Wirklichkeit" zu verändern - das heißt, ihrem Wissen um die Darstellbarkeit von Macht, gebührt sicher aber noch größere Aufmerksamkeit, als ihr hier zu Teil wird. In diesem Zusammenhang empfinde ich das oben beschriebene überbordende Maß an "Echtheit" und Authentizität als nachteilig, weil ich mir für die Interpretation von Weigels Person und Werk mehr Unsicherheit, mehr Fragen und größere Zusammenhänge wünsche. Werner Hecht hat gewissermaßen nichts wirklich falsch gemacht, zum Beispiel, wenn er den Schlagschatten von Brecht nach Möglichkeit reduziert, in dem er unbeirrt sein Licht auf Weigels gesamte Persönlichkeit gerichtet hat. Aber er hat es eben meiner Meinung nach auch nicht wirklich richtig gemacht: denn bei diesem Blick kommt es letztlich zur Darstellung von Privatem und nicht zur Herausarbeitung des Denkens einer herausragenden Frau. Die Deutung ihres Werkes, die Bedeutung ihrer Arbeit, die eben weit über das Künstlerkollektiv mit Brecht hinausreicht, kommt mir zu kurz und wird sogar durch die Herangehensweise von Hecht verhindert, weil Brecht letztlich immer als unangefochtene intellektuelle Autorität über Weigel steht. Weigel selbst durchkreuzt diesen Interpretationsansatz in dem ausführlichen Interview zu Beginn mehrfach. Die endlosen Fragen nach Brecht und dem Dasein als "Brecht-Objekt" werden ebenso wie die nach einem falsch verstandenen "Künstlerinnenstatus" von ihr mit einer Mischung aus höflicher Ignoranz und Ironie behandelt. "Die erste ausführliche Beschreibung Brechts, die ich kenne, ist die Botin in Ödipus ... WEIGEL: ... Ödipus, die Magd. Es war eigentlich die erste Arbeit Brechts, die er in Anerkennung, dass da doch eine Art Talent ist, mit mir gemacht hat. Sehr komisch!" "HECHT: In den "Katzgraben"-Notaten gibt es von Brecht eine schöne Geschichte über Sie. Als er auf der Probe behauptet, Sie seien eine 'geniale Schauspielerin', fragt ihn ein anderer: 'Was ist Genie?' Brecht antwortet: 'Genie ist Interesse.' WEIGEL: Hübsch, ja. Ich hab das auch mal gehört." "Brecht hat einmal beschrieben, wie Sie sich schminken. Von den einzelnen Gesichtsausdrücken, die Sie dabei einnehmen, könne man meistens eine Seelenhaltung - oder sagen wir: einen bestimmten gestischen Ausdruck ablesen. Es komme bei der Schauspielkunst nun darauf an, dass der Schauspieler sich solcher Wirkungen bewusst wird [...]. WEIGEL: Nuja, das wäre eigentlich ganz entgegengesetzt zu dem was ich meine. [...] HECHT: Er meint, glaube ich, beim Schminken hat man keine Empfindungen und kommt dennoch zu bestimmten Ausdrücken. WEIGEL: Nein, man schneidet Gesichter, damit die Schminke überall hinkommt." Man sitzt förmlich dabei, hört zu, wie die Weigel selbst denkt, hört ihre genau überlegten Antworten, ihre Ausweichmanöver, aber auch ihre versteckten Angriffe auf das, was Hecht ihr implizit unterschieben will.

Faktensammeln ja, hermetische Heldinnen kreieren nein. Weigel kann und muss gewissermaßen noch mehr als eigenständige Person / Persönlichkeit / Künstlerin gezeigt werden in einem Buch, das ihren Namen als Titel trägt. Das brillante Titelfoto der älteren Weigel auf dem Umschlag kann dabei als Leitfaden dienen: Weigels Körper sitzt dem Betrachter zugewandt, ihr aufmerksamer Blick richtet sich auf jemanden, der sich rechts außerhalb des Bildes befindet. Es sieht aus, als mache sie diesem Gegenüber gerade unmissverständlich ihren Standpunkt klar, mit einer Bewegung, die die Arme in diesem Augenblick in definitiver Geste vor dem Bauch kreuzt. Dadurch, dass Weigel mitten in ihre Sprach-Bewegung herein fotografiert wurde, entsteht der Eindruck, dass diese Frau sich sehr entschieden äußert. Wir sehen die visuell arbeitende Künstlerin als DEUTLICHE Person vor uns - jetzt kommt es darauf an, sie in dieser Deutlichkeit auch zu verstehen. Die Herausforderung wäre dabei: sie nicht immer wieder als Brechts Weigel zu thematisieren.

Titelbild

Werner Hecht: Helene Weigel. Eine große Frau des 20. Jahrhunderts.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
340 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3518411292

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