Der ganze Deleuze

Ingo Zechners "Deleuze. Der Gesang des Werdens"

Von Stephan GünzelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Günzel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist ein rasantes Buch. Sicher eines der besten, das zu Deleuze existiert. Ingo Zechner hat den "ganzen Deleuze" parat und verdichtet ihn. In Deleuze eigenem Begriff: Es weist eine "Konsistenzebene" des Denkens aus. Doch dies ist zugleich das Problem des Buches. Es ist eine Arbeit für Leser, die Deleuze schon kennen und am Gedanken der größtmöglichen Vernetzung, den Deleuze in der Philosophie nur einmal - nämlich in Spinozas Ethik - verwirklicht sieht, Gefallen finden. Sonst kann das Buch zu Ermüdungserscheinungen führen, insofern die Begriffe nur schillern, wenn man sie aus dem Original kennt. Dann ist Zechners nahezu naive Begeisterung ansteckend. Alle anderen Leser werden an der Oberfläche abrutschen und in der Erklärung von Deleuzeschen Termini durch wieder nur andere wenig Begeisterung für die Immanenz aufbringen. Auch für die kritische Auseinandersetzung ist so kein Platz. Als Einführung ist das Buch schon deshalb nicht geeignet, weil es keinen Überblick über das 'Werk' gibt, den Glauben daran man sich aus antitraditionalistischen Gründen natürlich abtrainieren kann, der aber nach wie vor eine der Leitern in die Philosophie darstellt (hierfür bleibt die Monographie von Christian Jäger kanonisch). Nur insofern man anhand der Siglen im Fließtext die Stellen ausfindig machen kann, welche einzelne Bücher Deleuzes zusammenfassen, ist eine Relokalisierung der Topoi bezüglich der Werkpassagen möglich. Design, Satz und Druckbild des Bandes sind hervorragend (Diesbezügliche Probleme in früheren Publikationen des Verlags scheinen endlich der Vergangenheit anzugehören).

Ein Drittel des Buches, das fast ganz auf die Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur verzichtet, ist für eine "Biblio-Bibliographie" reserviert, in der Zechner nicht nur alle Texte Deleuzes auflistest (dies ist zwar kein Gewinn, insofern sie an anderer Stelle sowie in fortlaufender Aktualisierung online bereits gegeben sind; dennoch schön, sie zu haben), sondern auch einen Überblick der Texte zu Deleuze liefert. Bezüglich des thetischen Teils mutet dies fast wie eine Entschuldigung für die fehlende Reflexion an, aber sei es drum: Es ist eben eine kreative Form und nicht die schlechteste. Vielleicht kann sie Schule machen. Etwas peinlich wirkt da die prätentiöse Widmung, in welcher es heißt, dass Deleuze den Autor wieder Lachen gelehrt habe. Deleuze 'Fröhliche Wissenschaft' gehört sicher nicht zur Erbauungsliteratur, wohl aber in die Tradition schonungsloser Kritik. Gegen den weltschmerztherapeutischen Einsatz sperrt sie sich gerade.

Tatsächlich versucht Zechner aber auch noch mehr als die "unendliche Geschwindigkeit" des Denkens zu erreichen: Er möchte eine Ethik oder zumindest ein Ethos aus Deleuzes Summe gegen die Dialektiker ausfällen. In diesem Zuge findet der mithin einzige Blick aus einer Metaperspektive statt. Dazu allerdings bedarf Zechner der Anregung der Sekundärliteratur. So konstatiert er mit Michaela Otts hervorragender Monographie über Deleuze und seine Arbeiten zur Literatur, dass seine Ethik sich vor allem rhetorisch zeigt: Deleuze gehäufte Verwendung des Imperativs: "Man muss", um dies und das und das zu erreichen ... Dies ist insofern eine philosophische Neuerung, als die (kategorische) Verbindlichkeit nicht mehr allein aus der grammatikalischen Form gefolgert werden kann, sondern (wieder) in Abhängigkeit zu den Folgen gebracht wird - wenn man es denn will. Dies ist die Ethik der Literatur, insofern diese den Freibrief besitzt, sich nicht rechtfertigen zu müssen. Es ist ein gänzlich romantisches bis egomanisches Wollen, das die Ziele bestimmt. Eingekleidet wird dieses Ethos nun - dies zeigt Zechner - in den Infinitiv: "Es zu wollen, bedarf...". Dadurch wird Ethik subversiv und ein Stück weit auch kritikresistent. Deleuze 'Nietzsche' ist letzte Rechtfertigung der nunmehr gänzlich praktischen Ethik: Es geht gar nicht um das, was man will, sondern darum wie man es will.

Wie in vielen Fällen der Deleuze-Literatur wird das Zutun Guattaris schlicht subsumiert. Tatsächlich unterscheiden sich die Texte der Zusammenarbeit und sind nicht einfache Verlängerungen des Deleuzeschen Ansatzes. Alles in allem ein überaus kurzweiliger und verdienstvoller Essay, durch den man im Flug 'seinen Deleuze' auffrischen kann. Leider ist es nicht mehr geworden.

Titelbild

Ingo Zechner: Deleuze. Der Gesang des Werdens.
Wilhelm Fink Verlag, München 2003.
222 Seiten, 27,90 EUR.
ISBN-10: 377053915X

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