"Geld oder Leben"

Birgit Vanderbeke fragt sich, an was man eigentlich glauben soll

Von Bettina AlbrechtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bettina Albrecht

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Mensch braucht irgendetwas, an das er glauben kann. Das hat die Ich-Erzählerin aus Birgit Vanderbekes neuem Werk "Geld oder Leben" schon als kleines Kind gelernt: "Entweder man glaubt es, oder man glaubt es nicht. Wenn nur alle dran glauben, wird es schon funktionieren, und die, bei denen es nicht funktioniert, haben eben nicht stark genug daran geglaubt."

Das Erste, an das die Ich-Erzählerin glaubte, war Schokolade. An den lieben Gott konnte sie beim besten Willen nicht glauben, weil niemand an ihn glaubte - noch nicht einmal ihre Großmutter. Die glaubte lieber an Hüte und Handschuhe, die aus ihr wieder eine junge Frau zaubern sollten. Der Vater beschloss dagegen, an die Freiheit zu glauben, und die Familie übersiedelte von Ost- nach Westdeutschland. Die Mutter schließlich glaubte an die große Liebe und an die heile Familie - bis sich herausstellte, dass der Vater unter "Freiheit" nicht nur den Westen und Autos mit vielen PS, sondern eine gewisse Elisabeth, später dann eine gewisse Sheila verstand.

Ihren kindlichen Blick auf das Leben legt die Protagonistin nicht ab, obwohl sie sich im Laufe der Erzählung zur "erwachsenen" Frau mit Partner und Kind entwickelt. So wirft sie einen pseudoinfantilen Blick auf zwei Jahrzehnte Bundesrepublik - von Studentenrevolte und Ökowelle bis zu Kabelfernsehen und Zusammenbruch des Neuen Markts. Typisch für Vanderbeke ist, dass diese Betrachtungen nicht in etwas eingebettet sind, das man als "Handlung" bezeichnen könnte.

Lakonisch und nur scheinbar naiv erzählt die Protagonistin von Lehrern, die an die Gerechtigkeit, oder von Studenten, die an "Atomkraft, nein danke!" glauben. Nur sie selbst weiß nicht so recht, an was sie noch glauben soll. Für sie ist das Leben ein Spiel, das man nicht allzu ernst nehmen muss. Denn es hat merkwürdige Regeln und dreht sich eigentlich nur um Eines, und das ist das Geld. Früher oder später glauben nämlich alle nur noch daran. Sogar die Mutter fängt auf ihre alten Tage damit an, als ihr Sohn sie zum Aktienkauf überredet: "Sie hatte sich erinnert, daß Zukunft und Geld zusammengehörten, als sie noch an die große Liebe und die heile Familie geglaubt hatte, und auf ihrem siebzigsten Geburtstag nun erinnerte Matz sie daran, daß sie früher immer gesagt hatte, kannst du dir nicht etwas Sinnvolles kaufen, wenn er sein Geld für Süßigkeiten verballert hatte. Was gibt es Sinnvolleres als Geld, sagte er." Es scheint, als sei einzig die Protagonistin im Stande, dieser Verlockung zu widerstehen: "Ich fing plötzlich an, an etwas zu glauben, was ganz bestimmt kein Geld war, sondern mit Kletterpflanzen und Wurstsalat zu tun hatte."

Die Ich-Erzählerin ist eine wahre Heldin, denn sie findet einen Weg, dem Konsumterror der kapitalistischen Gesellschaft standzuhalten und seine Lächerlichkeiten zu erkennen. Eine derart makellos gezeichnete Figur ist freilich schwer zu ertragen, wenn man die Erzählung nicht als das erkennt, was sie ist: eine Art modernes Märchen. Seine ewig jung bleibende Heldin ist nichts als ein reiner, zudem namenloser Idealtyp. Obwohl sie sich den Zumutungen des Lebens ausgesetzt sieht, blickt sie doch aus einer originären, artifiziellen Perspektive von außen auf die Gesellschaft, die ein ganzes Spektrum von Missständen bietet: Drogenmissbrauch und HIV werden ebenso thematisiert wie Arbeitslosigkeit und Familienprobleme.

Ungeheuer stark simplifizierend, dabei aber durchaus treffend, bringt Vanderbeke immer wieder kleine Wahrheiten ans Licht, ohne vor Banalem Halt zu machen. So werden alltägliche Begriffe und Phrasen hinterfragt: "Auf der Beerdigung waren viele aus unserer Klasse und sagten zu Hans, ich dachte, dich gibt's gar nicht mehr. Hans sagte, mich gibt's noch, und ich fand es nicht sehr passend, daß sie auf der Beerdigung von Sandra so etwas sagten, aber sie meinten natürlich nicht, daß sie gedacht hätten, Hans wäre wie Sandra gestorben. Sie meinten, daß sie selbst nicht mehr daran gedacht hatten, daß es Hans gibt."

Vanderbekes virtuose Satzkaskaden werden gelegentlich mit den Werken Thomas Bernhards verglichen. Für ihr Debüt "Das Muschelessen" erhielt die Schriftstellerin 1990 den Ingeborg-Bachmann-Preis. Der "Vanderbeke-Sound" ist indes äußerst umstritten. Die typischen Wiederholungen und Variationen, an denen sich die Geister scheiden, gibt es auch in der Erzählung "Geld oder Leben". Der Erzählstil ist anfangs unbeschwert und amüsant, doch bald merkt man, dass hier nichts dem Zufall überlassen bleibt. Immer kritischer wird der Ton, immer beißender die Ironie. Vanderbeke hat gut daran getan, die Erzählung just da zu beenden, wo der Stil in verbitterten Zynismus umzukippen droht.

Immer noch bleibt die 47 Jahre alte Schriftstellerin ihren Lesern einen "großen Roman" schuldig. "Geld oder Leben" ist vielleicht noch nicht einmal eine "große Erzählung". Wer sich aber auf den "Vanderbeke-Sound" einlässt und ihre konsumkritischen Belehrungen nicht allzu ernst nimmt, kann sich durchaus auf anregend intelligente Weise amüsieren. Man muss nur an das Buch glauben.

Titelbild

Birgit Vanderbeke: Geld oder Leben. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
140 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-10: 3100870212

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