Zentrifugaler Wikingerinstinkt

Christian Geulen zeigt, wie die deutsche Gesellschaft sich ab 1870 immer mehr zum nationalistischen Projekt entwickelte

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die "innere Logik" des Rassismus verstehen lernen, ohne seinen völkischen Mystizimsus aufzuwerten: Christian Geulens Dissertation versucht, die Geschichte des Nationalismus im späten 19. Jahrhundert zu "historisieren". Das, was hier kritisch auf einen "nicht wegzuargumentierenden Teil moderner politischer Rationalität" hin untersucht werden soll, liest sich dennoch zunächst einmal wie eine endlose Kette grotesker Wahnideen.

Da ist zum Beispiel Theodor Fritsch. 1903 begann er in seiner Zeitschrift "Hammer. Monatsblätter für deutschen Sinn" eine Artikelserie über den "Rückgang der blonden Rasse". Schlimm sei es um den "allgemein deutschen" Typus bestellt, klagte Fritsch. "Wir gewahren um uns her allerhand Gesichter, die man wohl eher als slavisch, keltisch, mongolisch, chasarisch, semitisch, ja als negerisch bezeichnen möchte, nur nicht als deutsch". Fritsch ging von einem "arischen, blonden, blauäugigen deutschen Urstamm" aus, der einst von Europa bis Asien geherrscht habe. Dschingis-Khans tapferste Männer, die besten Heerführer der römischen Herrscher, der blonde Achilles und Jesus von Nazareth - alle seien sie Kämpfer einer geheimen arischen Fremdenlegion gewesen. Fritsch rühmte ihren "Kampfgeist", der "ohne jede andere eigennützige Absicht, ohne Haß und Feindschaft" gewaltet habe. Dieser ziellosen Kampfeslust sei es schließlich zu verdanken, dass die "arischen Edelmenschen" zu jener "leiblichen und seelischen Vollkommenheit empor gehoben und gezüchtet" worden seien, "von der wir heute noch zehren".

Mehr noch: Solle das gesamte Menschengeschlecht nicht untergehen, sei es allerhöchste Zeit, sich auf jenen "zentrifugalen Wikingerinstinkt" zurück zu besinnen, der die tapferen Urgermanen immer wieder in die Welt hinausgetrieben habe, um für den Erhalt ihrer Rasse zu kämpfen. Ohne diesen Kampf wäre die Erde schon lange "mit einem zwerg- oder krüppelhaften Geschlecht" übervölkert, behauptete Fritsch und fragte: "Wie werden wir wieder besser deutsch? Wie befestigen wir unser Volkstum wieder in seinen natürlichen Grundlagen?" Seine "Lösung" des Problems war der bedingungslose Kampf gegen das stereotypisierte "Jüdische" in der Welt. Ohne einen jüdischen Feind als jederzeit neu definierbare Gegenrasse gab es für Fritsch gar keinen Weg, "um das Germanentum noch in letzter Stunde vor völligem Verfall" zu bewahren.

Fritsch war kein Einzelfall. Sein ab 1902 erscheinendes Blatt war nur das langlebigste in einer ganzen Reihe antisemitischer Zeitschriften, die seit den 1890er Jahren gegründet worden waren. Es verschränkte Rassismus, Antisemitismus und Nationalismus zu einem ideologischen Wahnsystem, das sich "durch die verschiedensten Verbände, Organisationen und Leserschichten, durch einschneidende historisch-politische Ereignisse hindurch als erstaunlich reproduktionsfähig" erwies, "bis es 1933 staatspolitisches Programm wurde", wie Geulen bemerkt.

Im Vorwort erinnert der Autor zudem daran, dass die "in den vergangenen Jahren wieder verstärkt auftretende Identifikation nationaler Zugehörigkeit mit ethnischer Herkunft [...] kaum mehr ernsthaft als Überbleibsel oder Wiederbelebung eines vormodernen Stammesbewußtseins gedeutet werden" könnten. Vielmehr seien ethnische Ideologien auch heute Objekte bewusster politischer Instrumentalisierungen. Geulen geht von dem seit Jahrzehnten bestehenden Forschungskonsens aus, wonach Nationen lediglich als "gedachte Ordnungen" (M. Rainer Lepsius), als "erfundene Traditionen" (Eric J. Hobsbawm) oder "imaginierte Gemeinschaften" (Benedict Anderson) begreifbar sind - und nicht etwa als 'natürlich' gewachsene Gebilde.

Geulens Funktionsanalyse rassistischer und nationalistischer Ideologien setzt in der Mitte des 18. Jahrhunderts an und beleuchtet den Weg in den deutschen Imperialismus und den Ersten Weltkrieg. In knapp und flüssig geschriebenen Kapiteln skizziert der Schüler Hans-Ulrich Wehlers den vor allem im späten 19. Jahrhundert rapide fortschreitenden Wandel rassistischen Denkens. Ein konterkarierender Vergleich zur historischen Entwicklung des US-amerikanischen Rassendiskurses dient Geulen schließlich dazu, die Besonderheiten der totalitären deutschen Auslegung des Darwin'schen "Kampfes ums Dasein" herauszuarbeiten.

Mit Darwins Evolutionstheorie, die mit der Veröffentlichung seines epochalen Werks "On the Origin of Species" (1859) das moderne Weltbild schlagartig veränderte, bekam der Rassimus plötzlich einen wissenschaftlichen Horizont. Jetzt konnten Rassen nicht mehr nur als gottgegebene, heroische Genalogien halluziniert, sondern als veränderbare evolutionäre Objekte verstanden werden. Darwins Theorem einer zufallsbedingten Evolution wurde von einer zunehmend national orientierten Wissenschaft zur Möglichkeit zielgerichteter Selektion umgedeutet: Die Nation sollte die Zukunft ihrer Bevölkerung nun mittels Eugenik, Hygiene und Zuchtwahl selbst erforschen und steuern können. Wissenschaftler wie Rudolf Virchow und Ernst Haeckel begannen, die Naturwissenschaft nach dem "Tod Gottes" (Nietzsche) als neue Religion zu inthronisieren, die dem strikten Diktat einer nationalpolitischen Ordnung unterworfen werden konnte. Geulen zeigt, dass sowohl Haeckels Monismus als auch Virchows mechanistisches Weltbild auf eine physiologisch gestaltete Ganzheit Deutschlands abzielten.

"Gestalten, was da ist" war auch die Devise eines der einflussreichsten Rassenideologen der Jahrhundertwende, Houston Stewart Chamberlain. Ihm widmet Geulen ein ausführliches Kapitel und zeigt, wie der Antisemit in seinem Monumentalwerk "Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts" (1899) auf 900 Seiten einen 18 Jahrhunderte währenden Siegeszug der "germanischen Welt" konstruiert. Mit dem stolzen Verweis auf den Sieg der Deutschen über Frankreich 1870/71 triumphiert Chamberlain: "Das ist der Erfolg von Rassenerzeugung durch Nationenbildung. Der feste nationale Verband [...] bedeutet gemeinsame Erinnerung, gemeinsame Hoffnung, gemeinsame geistige Nahrung; er festet das bestehende Blutbad und treibt an, es immer enger zu schließen".

Auch für Chamberlain war die Rolle der "Germanen" in der Weltgeschichte noch lange nicht abgeschlossen. Er imaginierte einen unablässigen gesellschaftlichen Kampf, der als fortlaufende Geschichte von Entdeckungen, von wirtschaftlicher Blüte, von künstlerischen und philosophischen Leistungen zur Durchsetzung und Veredelung der Nation führe. Jenseits geographischer Grenzen verstand Chamberlain die Rasse bereits als völkisches Prinzip, dessen Siegeszug zur biopolitischen Staatsraison erhoben werden konnte. Chamberlain nahm damit vorweg, was Geulen so zusammenfasst: "Da die Nation allein im biopolitischen Rassenkampf [...] existierte, stand sie im privaten Ehebett ebenso auf dem Spiel wie bei der Besiedelung der afrikanischen Steppe".

Geulens Buch folgt Michel Foucaults Befund einer entgrenzten Biopolitik und versucht ihn mittels einer weitreichenden Untersuchung historischer Kontexte zu verifizieren. Geulen erinnert an Zeitschriften, Ausstellungen und Vereine, um die ganze Breite nationalistischer Identifikationsmuster in der deutschen Gesellschaft zu erfassen. In der erfolgreichen Dresdner Hygieneausstellung von 1911 etwa wurde ein Reinheitsbegriff popularisiert, der mehr als die bloße Verbreitung gesundheitlicher Vorsichtsmaßnahmen bezweckte. Die totalitäre Vorstellung eines "gesunden Volkskörpers" fand hier ihren Ursprung: "Ungeheure Werte an Kraft und unermeßliches Kapital schlummern in jedem Volkskörper, sie zu bergen und dem Wohle der Allgemeinheit nutzbar zu machen ist höchste sittliche Pflicht jedes Staatsbürgers", hieß es im Ausstellungskatalog.

Selbst emanzipatorische Vereinigungen wie der Bund für Mutterschutz und Sexualreform (BMS), jene von Helene Stöcker geleitete Gründungsorganisation der deutschen Frauenbewegung, wurde von der rassenhygienischen Ideologie des Nationalismus erfasst. Der BMS war seiner Zeit weit voraus und propagierte die Gleichberechtigung der Frauen in einer offensiven Weise, wie sie erst in den späten 1960er Jahren vom Feminismus wieder aufgegriffen werden konnte. Nicht übersehen werden darf jedoch laut Geulen die eigenartige Verbindung, die auch "der frühe Feminismus mit dem Nationalismus und dem rassentheoretischen Diskurs einging".

Geulens Studie überzeugt weniger durch ihren historisierenden Ansatz, als durch die Fülle ihrer Dokumentation. Im Rückblick ist es erschreckend zu sehen, wie einhellig die deutsche Gesellschaft nach der Reichsgrüdung von 1871 an einen radikalen nationalistischen Projekt arbeitete, das schließlich in zwei vernichtende Weltkriege führte. Geulens Buch ruft zudem in Erinnerung, dass diese verhängnisvolle Geschichte tatsächlich noch lange nicht zu Ende ist. So bemerkt der Autor in seinem ausblickenden Nachwort, dass die willkürliche Definition abstrakter biopolitischer Feindbilder im Zeitalter des weltweiten Terrors wieder in greifbare Nähe gerückt sei: "Der Raum für politische Verhandlung, das Politische selber, wird ausgefüllt von Szenarien absoluter Lebensbedrohung". Wohin dies führt, ist in seinem Buch nachzulesen.

Titelbild

Christian Geulen: Wahlverwandte. Rassendiskurs und Nationalismus im späten 19. Jahrhundert.
Hamburger Edition, Hamburg 2004.
411 Seiten, 35,00 EUR.
ISBN-10: 3930908956

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