Reminiszenzen
Erica Pedretti beantwortet die Frage, was ein Kuckuck im Altersheim zu suchen hat
Von Nicole Wilmer
Besprochene Bücher / Literaturhinweise"Wer die Gegenwart sieht, hat alles gesehen, was sich Ewigkeiten ereignet hat, es ist alles wie gestern, Tag für Tag und auf unendliche Zeit wird sich dasselbe ereignen. Langeweile, denn alles ist an Art und Wesen gleich, noch keine? Und dann? So ein Tag dauert eine Ewigkeit, und alles hat Zeit, noch Zeit. Immer wieder fängts mit Montag an. Kein Sonnenstrahl heute. Hoffnung auf Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, bis Sonntag. Ewigkeiten. Langeweile? Lust? Nachher. Erst dies und das und dann."
Auf ganz unsentimentale Weise wird hier die anrührende Geschichte einer Altersheimbewohnerin erzählt. Frau Morlang hat eine lange Vergangenheit hinter und eine kurze und leere Zukunft vor sich, sie wartet nur noch "darauf, daß es später wird". Sophie erwartet den Tod, der sie von einem anstrengenden Leben erlösen soll, und da sie weiß, daß vieles von dem, was passiert ist, nach ihrem Tod vergessen sein wird, erzählt sie ihre Geschichte: von sich, ihrer Familie sowie von einem ihrer Pflegekinder, Trude, die ihr nun schon seit 55 Jahren das Leben schwer macht. Doch Sophie hat sich von keinem noch so schweren Schicksalsschlag überwältigen lassen. Ihre erste und einzige große Liebe: ein Heiratsschwindler; ein Pascha als Ehemann, der sich auch noch an den Kindern vergriffen hat.
Vergewaltigungen und vieles mehr: es gibt nichts, was sie nicht klaglos eingesteckt hätte. Musterhaft und tapfer, so glaubt sie, habe sie immer ihre Pflichten als Mutter und Hausfrau erfüllt. Doch nun ist sie alt und schwach geworden, lebt ein bißchen enttäuscht von den Menschen und vom Leben im Altersheim und hat endlich ihre wohlverdiente Ruhe. Alles könnte so schön sein, wäre da nicht das "Kuckuckskind" Trude, das mit seiner egoistischen Liebe Sophie die Luft abschnürt.
Ebenso sachlich wie hier erzählt es auch Frau Morlang. Vielleicht gerade deshalb rührt dieses Buch so an, weil man ahnt, daß hinter solch einer Fassade der Nüchternheit eine große Verletzbarkeit und damit tiefe Emotionalität der Erzählerin verborgen sein muß. Auch gibt der lakonische Erzählstil dem Leser Raum zur eigenen Gefühlsentfaltung. Morlangs Sprünge zwischen Vergangenheit und Gegenwart sowie die zahlreichen Wiederholungen und die zunehmend verworrenen Gedanken verdeutlichen sehr anschaulich die Geisteswelt alter Menschen. In der Darstellung Sophies und ihrer ewig nach Aufmerksamkeit hungernden Pflegetochter liefert Erica Predetti ebenso ein eindrucksvolles wie kritisches Psychogramm eines Generationkonfliktes. Sophie ist ein Sinnbild der wehrlosen, angepaßten Frau, der eine immer fordernde, egoistische und durchsetzungsstarke jüngere Variante gegenübersteht.
Eine anspruchsvoll erzählte Geschichte über das simple und doch so komplizierte Leben und die verschiedenen Strategien seiner Bewältigung.