Neues über den 'Media'-Markt

Ein Zeitschriftenband zur mediengeschichtlichen Neuorientierung des Gedächtnisbegriffes

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bereits die ältesten Überlegungen zum Begriff des Gedächtnisses verwenden Metaphern technischer Aufzeichnungssysteme, die ihrerseits den Wandel der mehr als zweitausendjährigen Mediengeschichte reflektieren: von den Buchstaben der Schrift, die orale Speichertechniken wie Reim und Rhythmus abgelöst haben, führt der Weg zur platonischen Wachstafel, zur Papyrus-Rolle und zum Buch; vom Buch dann zur Bibliothek und zum Bildfeld des Magazins. Gegenwärtig zeichnet sich ein grundlegender Kulturwandel ab, bei dem die Schrift als Leitmetapher des Gedächtnisses von der 'Megatrope' des 'World Wibe Web' abgelöst wird. Damit verschiebt sich die entsprechende Kulturtechnik vom 'Schreiben' immer mehr in Richtung 'Verknüpfen'.

Vor diesem Hintergrund erweitert ein Sonderheft der "Deutschen Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte" die Gedächtnisforschung: Wurden bisher vorwiegend die Mechanismen des Gedächtnisses und damit die Gesetzmäßigkeiten des Erinnerns und Vergessens erforscht, so verlagert sich hier der Schwerpunkt des Interesses auf die Medien des Gedächtnisses, deren historische Konturen und die Verzahnung neuester medientheoretischer Diskussionen mit bereits geführten Debatten um den Gedächtnisbegriff.

Die einzelnen Beiträge aus den Bereichen der Medien-, Bibliotheks- und Literaturwissenschaft, Ethnologie und Kunstwissenschaft fragen nach der spezifischen Medialität von Erinnerung. In bunter Vielfalt breiten sie daher unterschiedliche Gedächtnismedien aus, spüren dem Strukturwandel des kulturellen Gedächtnisses in der Neuzeit nach, untersuchen das Zusammenwirken von Gedächtnis, Medien und Technikgeschichte in vor- wie nachgutenbergischen Konstellationen, skizzieren eine historische Anthropologie der Medien und suchen nach Anschlüssen des Gedächtnisbegriffes an Modelle der sogenannten 'neuen' Medien und der Kybernetik. Explizites Ziel des Unternehmens ist es, "die Frage nach den Medien aus ihrer darin festgeschriebenen und stigmatisierten Supplementarität" zu befreien.

Ein unterschwelliger Interessenschwerpunkt des Bandes verdankt sich der bereits von Frances A. Yates ("The Art of Memory", London 1966) gestellten Frage nach der Mnemotechnik als Textmodell und der im Anschluß daran von Renate Lachmann knapp dreißig Jahre später postulierten Interdependenz von Intertextualität und Gedächtnis ("Gedächtnis und Literatur", Frankfurt am Main 1990). Birgit Erdle erweitert diese Ansätze in ihrem lesenswerten Beitrag um eine eher psychoanalytisch verstandene Kategorie des 'Textgedächtnisses', nach der jeder einzelne Text in seinen - häufig verdeckten und überschriebenen - intertextuellen Verweisen das Gedächtnis überhaupt erst konstituiert.

Zugespitzt formuliert lautet dementsprechend die Frage für das digitale Zeitalter, das sich zunehmend seines kulturellen Gedächtnisses entledigt, ob etwa der "Hypertext als ein neues Textmodell auch ein neues Gedächtnismodell" sei und welche "Auswirkungen [...] die neuen technischen Bildmedien wie Photographie, Film und Video auf die Verfassung des Gedächtnisses" hätten. Hierzu liefern einige Beiträger wichtige und anregende Denkanstöße für zukünftige Arbeiten auf diesem Gebiet.

Geht man, wie es Aleida Assmann, Manfred Weinberg und Martin Windisch in ihren einleitenden Beiträgen skizzieren, von einem durch die 'neuen' Medien bedingten historischen Wandel aus, durch den der "digitale Speicher zur neuen Leitmetapher des Gedächtnisdiskurses wird", so stellt sich zwangsläufig die Frage nach dem Verhältnis von 'alten' und 'neuen' Gedächtnismedien sowie nach möglichen Kontinuitäten und Affinitäten zwischen Gedächtnismodellen der Antike und Renaissance und der "elektronischen Wissensorganisation des PC". Diesen Fragen gehen vorwiegend Peter Matussek, Peter Krapp, Dirk Vaihinger und Stephan Porombka nach und gelangen zu dem plausiblen Ergebnis, daß eine literaturtheoretische und poetologische Aneignung des Hypertextes als literarische Erinnerungstechnik noch ausstünde und daß die in Aussicht gestellte "Einheit eines vollständigen und vollständig verfügbaren Gedächtnisses" die Kategorie des 'Vergessens' zum Verschwinden brächte und damit unhaltbar sei.

Angemerkt sei, daß die zwischen den Zeilen immer wieder hörbar werdenden kulturkritischen Töne bisweilen larmoyant wirken und die nicht selten fröhliche Metaphorisierung von Gedächtnis und Medien häufig ihr Ziel verfehlt und ins allzu Hermetische abgleitet. Den insgesamt positiven Eindruck, den dieser Sammelband hinterläßt, vermag dieser Umstand aber nicht nachhaltig zu stören. Es ist das unbestrittene Verdienst des Bandes, am vielbeschworenen Ende der 'Gutenberg-Galaxis' an die Dringlichkeit der Frage nach der Medialität des Gedächtnisses erinnert, weiterführende Aspekte hinsichtlich dieses vergessen geglaubten Zusammenhangs bereitgestellt und die Hysterie auf dem 'Media'-Markt, alles spiele sich nur noch im Netz ab, etwas gedämpft zu haben.

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Aleida Assmann / Manfred Weinberg / Martin Windisch: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Medien des Gedächtnisses.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 1998.
328 Seiten, 31,70 EUR.
ISSN: 00120936

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