Aus Schuldgefühl

In Frankfurt stellte Dirk Vanderbeke den kommentierten deutschen "Ulysses" vor

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dere gewizzede biz. Gewissensbisse. Gewissens Bisse. Große Literatur, sagt Adorno, entsteht aus Schuldgefühl. Und wenn es stimmt, dass Joyce seine Hauptfigur Stephen Dedalus, sein alter ego im "Ulysses", als besonders hässlichen Charakter erscheinen lassen wollte, dann ist er besonders hart mit sich selbst ins Gericht gegangen. Ein Beispiel: Im zehnten Kapitel der "Wandering Rocks" ("Irrfelsen") kann die durchscheinend-ätherische, halb verhungerte Dilly ihrem Vater Stephen einige wenige Pennies aus den Rippen leiern. Stephen sieht ihre Not - "Sie ist am Ertrinken. Dere gewizzede. Rette sie. Biz" - doch er hört nicht auf seine innere Stimme. Stattdessen bringt er noch am selben Tag mit seinen Saufkumpanen die Hälfte seines Monatslohnes durch: drei Pfund, sechs Schilling.

Irische Standardsituationen wie diese sind tausendfach erzählt worden, zuletzt ergreifend und authentisch von Frank McCourt ("Die Asche meiner Mutter"), doch nie zuvor (und nie seither) so virtuos wie von James Joyce. Solche Virtuosität fordert ihren Preis: Seit Generationen sind "Ulysses"-Forscher unermüdlich bemüht, das dort eingewirkte und nachwirkende kulturelle Wissen zu ermitteln und auf diese Weise den stellenweise 'dunklen' "Roman eines Tages" zugänglicher zu machen. Nun hat ein vierköpfiges Herausgebergremium um Dirk Vanderbeke, Anglist an der Universität Greifswald, das schier Unmenschliche geleistet: In nur zwölf Monaten haben Vanderbeke und seine Mitstreiter Dirk Schultze, Friedrich Reinmuth, Sigrid Altdorf und Bert Scharpenberg den ersten kommentierten deutschen "Ulysses" erarbeitet. Natürlich konnten sie dabei auf Vorarbeiten zurückgreifen - darunter den Standardkommentar von Don Gifford -, ohne die diese Herkulesarbeit nicht zu stemmen gewesen wäre; gleichwohl ist ihre Leistung - und die des Verlages - gar nicht hoch genug zu bewerten.

Der deutsche "Ulysses" wurde für deutsche Leser kommentiert, also auf der Basis der immer noch lebendigen und stimmigen Übersetzung von Hans Wollschläger. Und er wurde mithilfe des neuen - und wohl unschlagbaren - 'Thesaurus Internet' erarbeitet. Bei der Buchpräsentation in Frankfurt schilderte Vanderbeke, wie durch virtuelle Besuche Gibraltars oder Tasmaniens wichtige Wissenslücken geschlossen werden konnten, einfach weil dort flott organisierte Touristenbüros oder gut sortierte Museen ihre Schätze der Welt präsentiert hatten.

Doch Websites sind fehlerhaft (selbst Giffords "Annotated Ulysses" steckt voller Irrtümer) und rangieren an Zuverlässigkeit irgendwo abgeschlagen hinter dem "Lexikon des Mittelalters" und der "Encyclopaedia Britannica". Umso wichtiger, dass sich die Herausgeber ergänzten: der Anglist, der sich auf das Verhältnis von den Literatur- zu den Naturwissenschaften verlegt hat, der Mediävist ("Dere gewizzede biz"), der nicht nur alle Quellentexte besorgt, sondern auch Hebräisch und etwas Arabisch spricht, der Philosoph und Sohn eines Theologen, der Ockhams Theorie der Hypostase zu deuten weiß und des Griechischen mächtig ist - alle diese Kerndisziplinen waren hier in personam vertreten. Ganz zu schweigen von dem Wissen, das man anderweitig abgeschöpft hat: Von der Leserin, die denselben Augenfehler hat wie Joyce, vom Volontär und Lektor, vom Hersteller, der seinen Ehrgeiz in die Kunst der literarischen Kartographie hineinlegt (denn Dublin ist ein begehbarer Ort) - sie alle haben ihr Wissen beigetragen und letztlich vor allem eines deutlich gemacht: dass der "Ulysses" vor allem ein Buch der Alltagskultur ist, in dem der Gassenhauer ebenso wie das Abführmittel, das starke, dunkle Guinness genau wie der Brauch, den Toten Pennys auf die Augenlider zu legen, ihren Reiz entfalten, in ihrer Funktion und Bedeutung zu zeigen und durch diskret verlaufende Motivketten miteinander verbunden sind. Joyce war ein guter Katholik, ein brillanter Ketzer und ein pedantischer Autor, und dies lustvoll und mit strenger Ökonomie offenbart zu haben, ist das Verdienst des "Ulysses"-Kommentars, der nur belegen, nicht aber interpretieren möchte. Orientierung, nicht Bevormundung war das Ziel - ein Angebot, das man ohne Gewissensbisse nicht ablehnen kann.

Titelbild

James Joyce: Ulysses. Roman.
Herausgegeben und kommentiert von Dirk Vanderbeke, Dirk Schultze, Friedrich Reinmuth und Sigrid Altdorf, in Verbindung mit Bert Scharpenberg.
Übersetzt aus dem Englischen von Hans Wollschläger.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
1122 Seiten, 50,00 EUR.
ISBN-10: 3518415859

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