Sehnsucht nach dem Mehr-als-Alles

Raoul Schrotts "Tristan da Cunha" als Hörbuch

Von Helmut SturmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helmut Sturm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine aus dem 6. Jahrhundert stammende Weltkarte zeigt die kreisförmige Erde vom Ozean umgeben. Im Denken der frühen Kulturen erleben sich die Menschen in der Mitte des Alls, umgeben von den Elementen, Feinden, Riesen und Gnomen, dem Licht des Göttlichen und der Finsternis des Dämonischen. Das Bild spiegelt die Sehnsucht nach einer Mitte, in der man zuhause sein kann. Abstrakt liegt es uns in Mandalas, Stadtplänen und Gartenanlagen vor. Raoul Schrott hat es in der Insel Tristan da Cunha gefunden.

Erscheint ein Buch des in Tunis aufgewachsenen Tirolers Raoul Schrott, wird es vom deutschsprachigen Feuilleton prompt rezipiert. So liegt vom letzten Roman des Literaturwissenschaftlers eine ungewöhnlich große Zahl von Rezensionen vor, die allein schon einen festen Platz im Literaturbetrieb anzeigt. Der 715 Seiten Roman "Tristan da Cunha oder Die Hälfte der Erde", dessen Hörspiel-Bearbeitung Gegenstand dieser Rezension ist, hat dabei Literaturkritikerinnen und Literaturkritiker zu recht unterschiedlichen Bewertungen animiert. Was Franz Haas in der "Neuen Zürcher Zeitung" als einen "grandiosen" Roman ausweist, verreißt Wendelin Schmidt Dengler in der Wiener "Presse". (Dieser Verriss hat in der Folge zu einer hitzigen Auseinandersetzung mit dem Autor in der Zeitschrift "Volltext" geführt, die wegen der gekonnt gesetzten rhetorischen Untergriffe eines gewissen Unterhaltungswertes nicht entbehrt.) Zuletzt ist Raoul Schrott für das Tristan Opus von der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz mit dem Joseph-Breitbach-Preis ausgezeichnet worden.

In einem Interview mit der Zeitschrift "Buchkultur" bezeichnet Schrott das kleine, kreisförmige Vulkan-Eiland im Südatlantik, im Dreieck zwischen Brasilien, der Antarktis und Südafrika als den entlegensten und einsamsten Ort der Welt. Es sei für einen Autor ein besonders "romantisches Projekt". Samuel Johnson hat im 18. Jahrhundert den Roman als "eine Geschichte, die meist von der Liebe handelt" bestimmt. Die vier Personen, deren Schicksale sich über die Jahrhunderte hinweg sich auf der auch heute nur einmal jährlich mit einem Postschiff zugänglichen Insel kreuzen, erzählen von ihr. Drei Männer und eine Frau aus verschiedenen Zeiten, von unterschiedlicher Herkunft entwickeln ihre je eigene Perspektive einer Geschichte, die immer komplex, nie einfach, voller Scheitern und Sehnsucht ist. Die Bearbeitung übernimmt die vier Protagonisten und fügt eine fünfte Sprechrolle, gelesen von Kathrin Angerer, dazu, die den immer wiederkehrenden Einbruch der Katastrophe zum Ausdruck bringt. Nur ein kleiner Teil des im Roman so opulent aufgetischten Wissens über Briefmarken, Numismatik, Nautik, Astrologie und Metaphysik hat im Hörspiel Platz gefunden. Insgesamt muss man der Bearbeitung bescheinigen, dass sie mit der gewaltigen Fülle der Vorlage souverän umgegangen und es ihr gelungen ist, in den knapp drei Stunden des Hörspiels ein weitgehend treffendes Bild vom Roman zu zeichnen. Michael Farin kam dabei sicher die Erfahrung mit der Bearbeitung anderer Werke Raoul Schrotts zugute (z. B. zuletzt, auch beim Bayrischen Rundfunk, "Die Wüste Lop Nor").

Die Rollen sind prominent und ausgezeichnet besetzt. Sophie von Kessel liest den Part der südafrikanischen Wissenschaftlerin Noomi Morholt, die aus der Gegenwart des Jahres 2003 ihre E-Mails von ihrer Forschungsstation in der Antarktis an den Schriftsteller Rui verschickt; Jens Harzer gibt seine Stimme Edwin Heron Dodgson, einem anglikanischen Missionar und Bruder des Schriftstellers Lewis Carroll; Christian Redl spricht die Rolle von Christian Reval, einem Funker und Landvermesser, und Friedhelm Ptok steuert die Sicht des Philatelisten Mark Thompson bei, der anhand seiner Briefmarken nicht nur die Geschichte der Insel seit ihrer Entdeckung, sondern vor allem die Geschichte seiner gescheiterten Ehe mit Marah rekonstruiert.

Intertextualität gehört zum Spiel Raoul Schrotts. So verweisen die Hauptfiguren selbstverständlich auf den mittelalterlichen Tristan-Stoff, Reval ist Tristan, Marah die Isolde, Mark der Betrogene und der Pfarrer findet seine Entsprechung im Einsiedler Ogrin. Aber Anspielungen gibt es zuhauf, auch in Michael Farins Hörspielbearbeitung. Um sie wahrnehmen zu können, braucht es allerdings ein sehr konzentriertes Hören, es ist kein Werk, das man im Stadtverkehr in den CD-Player stecken kann. Wenn man wirklich zuhört, sieht das Bild davon vielleicht dem Angelus Novus Paul Klees ähnlich: "Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen". Dass von diesem Stück, das keine echten Dialoge, keine Einheit der Zeit, ein Übermaß an Metaphern und, so scheint es, alle Sehnsucht der Welt enthält, tatsächlich ein ungewöhnlicher Sog ausgehen kann, liegt nicht nur an den Sprechern, sondern auch an der Komposition Helga Pogatschars, die eine sehr dichte Atmosphäre erzeugt. Die Regie der Produktion des Bayerischen Rundfunks hat Ulrich Lampen geführt.

Anzumerken ist noch, dass den drei CDs leider nichts beigefügt ist, was den Namen Booklet verdiente, was bei einem so anspruchsvollen Stück unverständlich ist. "Tristan da Cunha" verbindet zwar nicht Himmel und Erde, fordert aber jedenfalls zu einem Urteil heraus, das gewiss nicht einheitlich ausfallen wird.

Titelbild

Raoul Schrott: Tristan da Cunha oder Die Hälfte der Erde. 3 CD.
Der Hörverlag, München 2004.
170 min, 24,95 EUR.
ISBN-10: 3899403223

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch