Was sucht die Werbung auf dem Abtritt?

Ein anderer Beitrag zur Kulturgeschichte des stillen Örtchens

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Anfang war das Klo. Das Wort kam erst etwas später.

I. Einlauf

Es war kein Schokoladentag für den Werbetexter Octave. Eben erst hatte auf der Toilette des Kunden ein paar Linien Kokain geschnupft und war in den Konferenzraum zurückgekehrt, da rinnt es ihm schon blutig aus der Nase. Und was tut der Mann? Er rennt zurück aufs Klo und beschmiert die Toilettenwände mit der roten Grütze.

Die Szene aus Frédéric Beigbeders Roman "Neuunddreißigachtzig" lässt tief blicken. Befragt man Werbe-Kreative, so steht auf der Hitliste der besten Orte für Ideen auf Platz eins ganz klar die Toilette.

Das Klo ist still, ruhig und erleichtert. Und wer sich erleichtert hat, schafft Platz für Neues. Obendrein kann man hier eine ganze Menge lernen. Zum Beispiel, dass alles, was unten raus kommt, zuvor oben rein musste. Oder, dass es zur befreienden Auflösung einer Blockade keine endlosen Sitzungen braucht, sondern Entspannung. Und dafür ist reichlich gesorgt. Ein 60-Jähriger hat summa summarum 150 Tage seines Lebens auf dem Klo verbracht. Jemand in meinem Alter demnach so um die 80. Das sind 80 Tage Komfort und Bequemlichkeit, Hygiene und Entsorgung - aber auch konzentriertes Brüten und Sich-Sammeln.

Der menschliche Verdauungstrakt lässt sich mit anderen Worten nicht ausklammern. Erst recht nicht in der Werbung. Hinter der Tür mit der Doppel-Null hat der Werbetexter nichts zu befürchten. Da sitzt er nun auf seinem Thron aus Keramik und Plastik, den Stift in der Hand, neben ihm die Endlosrolle Papier. Jetzt kann sich die Ideenflut Bahn brechen. Was nun in der Einzelzelle ausgedacht und aufgeschrieben wird, ist andernorts bereits hinlänglich bekannt. Nämlich als Klospruch.

Eine 1992 an der Universität Wien vorgelegte Magisterarbeit trägt den etwas schwerverdaulichen Titel: "Geschlechtsspezifische Unterschiede hinsichtlich Häufigkeit und thematischer Inhalte bei Toilettengraffiti". Das Resultat: Studentinnen kommunizieren, anders als ihre männlichen Kommilitonen, "in sehr persönlichem Ton" miteinander; überdies sind rechtsradikale, fremdenfeindliche Latrinenparolen auf dem Vormarsch.

Norbert Siegls Studie ist die bislang umfangreichste empirische Arbeit über Toiletten-Schrifttum. Erste Untersuchungen zum anrüchigen Thema veröffentlichte die zwischen 1904 und 1913 zehnmal erschienene Wiener Zeitschrift "Anthropophyteia", zu deren Mitarbeitern auch Sigmund Freud gehörte. Sie mutmaßte, "daß die Luft der Latrinen für viele Besucher etwas Inspiratorisches hat".

In der Tat. Denn auch wer sich in Büchern über Kreativität umtut, kommt an einer Einrichtung nicht vorbei: der Toilette.

II. Große Sitzung

Lassen wir die Kreativen selbst zu Wort kommen:

"Es ist, als ob ich im Kopf einen Propfen habe. Wenn ich den löse, kommen alle Gedanken raus. Ich muss mich in diese Situation versetzen, diesen Pfropfen zu lösen, und da geht nur unter Druck." (Stefan Zschaler, GF Kreation bei Leagas Delaney)

"Man darf keine Angst haben, Scheiße zu produzieren. Der Müll muss aus dem Kopf, weil er sonst die Kanäle verstopft." (Peer Hartog, Klaar Kiming)

"Man muss damit klarkommen, dass es bei einem Klempner, der ein Klo einbaut, nach dem ersten Mal heißt 'Gut so', während wir 30 Klos einbauen müssen, ehe das 31. dann richtig sitzt." (Wolf Heumann, Jung von Matt)

"Ideen sind Verdauungsreste." (Veronika Claßen, D'Arcy)

"Bei mir ist das ein langer Gärungsprozess. Das Umsetzten ist dann das, was weh tut. Deshalb findet das erst zum Schluss statt." (Feico Derschow, Eiler & Riemel)

"Die Welt teilt sich in Falter und Krumpler. Und die Krumpler sind die Lieblinge der Klopapierhersteller, weil sie Unmengen von dem Zeug verbrauchen." (Dan Wieden, Wieden & Kennedy)

"Ich versuche einfach, das Produkt zu nehmen und Geschichten aufzuschreiben, die überhaupt nichts mit Werbung zu tun haben. Beispiel: Was habe ich selber mit Klopapier erlebt? Da gibt es 120 Geschichten. Vom Klopapier, das am Schuh hängt, wenn man vom Klo kommt, bis zum Rock, der noch in der Unterhose drinsteckt, wenn jemand auf der Toilette war." (Matthias Schmidt, Scholz & Friends)

"Bulletpoints kann ich auch auf der Toilette schreiben." (Stefan Vonderstein)

"Mir ist aufgefallen, beim Pinkeln fällt mir immer was ein. Ich trinke manchmal wie ein Loch, nur um aufs Klo gehen zu können." (Matthias Berg, Young & Rubicam)

"Als Kind war ich oft bei meiner Großmutter, die sich immer so ein Ding in den Arsch steckte, weil sie nicht aufs Klo konnte. Das war wahrscheinlich der Anfang. [...] Ich glaube, ich wollte über diesen gesunden Mittelschichts-Horizont hinaus. Vielleicht. Ich habe auch eine sehr dunkle Seite." (Wayne Wang)

"Wie man dann zur kreativen Lösung kommt? Es ist leider jedes Mal anders. Es gibt diesem Moment auf dem Klo, aber den gibt es auch nach sieben Stunden Brainstorming." (Jochen Mohrbutter, McCann-Erickson)

"Wenn der Spot interessant ist, dann schaut man sich den immer wieder gerne an. [...] es gibt ja wahnsinnig viele Spots, die hast du einmal gesehen und beim zweiten Mal gehst du aufs Klo." (Wolfgang Sasse, KNSK)

"Man muss monatelang in Scheiße waten, um dann irgendwie ein Nugget zu finden." (Christoph Steinegger, Sabotage Communications)

"Bullshit." (Hubertus von Lobenstein, Saatchi & Saatchi)

III. Nachspülen

Wayne Wang setzt den Mangel an Ideen wie die meisten Werber mit einem partiellen Darmverschluss gleich. Da gibt es eine Art Gefäß, zum Platzen voll mit angestauten Gedanken, Gefühlen und Empfindungen, und der einzige Weg, an sie heranzukommen, ist die befreiende Auflösung dieser Blockade.

Ja, so ein Klistier ist ein Pläsier. Aber was steckt wirklich hinter der geheimen Wahlverwandtschaft von kreativem Tun und Toilette? Die Inspirationsquelle des Texters heißt Neugier. Kreative müssen sich für Gott und die Welt interessieren. Überall sperren sie Augen und Ohren auf, sei es im Supermarkt, im Kino, in der U-Bahn, in der Kneipe oder beim Streit mit der Freundin. Vielleicht auch auf dem Elternabend in der Waldorfschule. Um ihren ungeheuren Bedarf an Kommunikation zu decken, missbrauchen Texter jeden und alles als Kreativpartner: die Brötchenfrau genauso wie den Busfahrer oder den Imbissbudenbesitzer an der Ecke.

Der Kopf des Texters ist ein Archiv voller Anekdoten, Erfahrungen, Selbsterlebtem und Fremdangelesenem. Aus diesem Kaleidoskop der Welt schöpft er seine Geschichten. Und er tut dies keineswegs nur auf dem stillen Örtchen, sondern überall. Im Stau. Während des Fernsehens. Nach dem Zubettgehen. Oder vor dem Aufstehen.

Nein, es ist nicht die Toilette, aus der die Kreativität wie aus einem geheimnisvollen schwarzen Loch emporsteigt. Es ist das Sprechen darüber, kurz: das Bedürfnis der Kreativen, Anrüchiges in den Mund zu nehmen.

Es gibt, behauptet Adorno in den "Minima Moralia", einen amor intellectualis "zum Küchenpersonal", die Versuchung für den akademisch und künstlerisch Arbeitenden, den intellektuellen Anspruch an sich zu lockern. Die Erklärung: Während seiner Tätigkeit muss der Kopfarbeiter allem Plumpen und Banalen widerstehen. Dies fällt ihm umso schwerer, als darin Anteile von ihm selbst verborgen sind. Erst das Ineinander von Versagung und Verlockung erklärt die Abscheu, die mancher den ,Niederungen' gegenüber hegt.

Bedenkt man noch dazu, dass viele Werber den "Kopf" verachten, weil die Werbung aus dem "Bauch" zu kommen habe, so erschließt sich die Tendenz zu Unterleibs-affinen Körperregionen (und dem, was dort herauskommt) fast von selbst. Auch ein kindlicher Regressionswunsch mag da mit hineinspielen.

Der Werber begibt sich sprachlich auf das stille Örtchen, weil er sich etwas herausnehmen will: gegenüber der Sprache, gegenüber dem geordneten, systematischen Denken, gegenüber den Erwachsenen, denen er als großes Kind die lange Nase macht. Nur dem Kunden gegenüber gibt er den Saubermann. Es geht eben nichts über den geregelten Gang der Geschäfte.

Zu den verwendeten Zitaten: Der Ausspruch von Dan Wieden ist Hermann Vaskes "Standing on the shoulders of giants" (2001) entnommen, der von Wayne Wang (der als Regisseur übrigens als einziger aus der Riege der Werbeleute heraus fällt) Vaskes Buch "Why are you creative?" (1999). Alle anderen Zitate finden sich in Armin Reins' "Die Mörderfackel" (2002), dem Lehrbuch der Texterschmiede Hamburg.

Titelbild

Jacob Blume: Von Donnerbalken und innerer Einkehr. Eine Klo-Kulturgeschichte.
Verlag Die Werkstatt, Göttingen 2002.
240 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-10: 3895333670

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Mila Schrader: Plumpsklo, Abort, Stilles Örtchen.
anderweit Verlag, Suderburg - Hösseringen 2003.
80 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-10: 393182425X

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Titelbild

Daniel Furrer: Wasserthron und Donnerbalken. Eine kleine Kulturgeschichte des stillen Örtchens.
Primus Verlag, Darmstadt 2004.
192 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3896782487

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