Traditionen, die die Hälfte der Bevölkerung verstümmeln, sind nicht erhaltenswert

Ein Sammelband von Terre des Femmes informiert über genitale Verstümmelung von Frauen

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Meinung, dass Feminismus eine "westliche Erfindung" sei, die "nichts mit Afrika zu tun" habe, ist "ein Irrtum", erklärte die Senegalesin Awa Thiam in ihrem 1977 veröffentlichten Buch "Die Stimme der schwarzen Frau". Denn, so erläutert die Feministin, "[w]ir kämpfen um universelle Rechte". Zu ihnen gehört auch das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Und eben dieses wird in weiten Teilen Afrikas seit Jahrtausenden durch eine der grausamsten kulturellen Praktiken verletzt. Die Rede ist von der Verstümmlung weiblicher Genitalien, die von der sehr seltenen "milden Sunna", also dem Einstechen oder Entfernen der Klitorisvorhaut, bis zur "Infibulation", der Entfernung der Klitoris, der inneren Labien und der inneren Schichten der äußeren Labien, reicht. Bei dieser sogenannten "pharaonischen Bescheidung", die etwa 15 Prozent aller Genitalverstümmlungen ausmacht, werden anschließend die blutenden Innenseiten der Vulva zusammengenäht, so dass sie über der Vaginalöffnung und dem Ausgang der Harnröhre zusammenwachsen. Ein eingelegtes kleines Holzstäbchen sorgt für den Verbleib einer winzigen Öffnung, durch die künftig Urin und Menstruationsblut austreten können.

Für mehr als 150 Millionen betroffene Frauen und Mädchen bedeutet die genitale Verstümmlung auch einen "Schnitt in die Seele". Unter diesem Titel informiert die neuste Publikation der Menschenrechtsorganisation "Terre des Femmes" mit Beiträgen von 29 AutorInnen aus zehn Ländern fundiert und umfassend über Genitalverstümmlung in Afrika und Europa sowie über den zunehmenden Kampf dagegen. Selbst dort, wo die AutorInnen medizinisches Fachwissen vermitteln oder komplizierte Details historischer und kultureller Zusammenhänge erläutern, bleiben die Beiträge stets leicht verständlich, ohne allerdings je oberflächlich zu werden. Vielmehr zeigen sich die AutorInnen auch auf begrifflicher Ebene sehr reflektiert etwa darüber, ob von "weiblicher Genitalverstümmelung" oder "weiblicher Bescheidung" zu reden sei, was angesichts des höchst sensiblen Themas allerdings auch eine unabdingbare Notwendigkeit ist. Die meisten AktivistInnen verwerfen die Rede von "weiblicher Beschneidung" als Euphemismus, einige afrikanische GegnerInnen der Praxis ziehen jedoch gerade diesen Begriff vor, um zu vermeiden, dass sich Betroffene durch die Wortwahl verletzt fühlen könnten. Das Problem, wie einfühlsam und gleichwohl wirksam gegen die Menschenrechtsverletzung durch genitale Verstümmelung an Frauen vorgegangen werden kann, wird also immer noch kontrovers diskutiert, wenngleich sich auf politischer Ebene längst der Begriff "weibliche Genitalverstümmelung" durchgesetzt hat. In der entscheidenden Frage allerdings herrscht auch bei den AktivistInnen Einigkeit: "Nur durch behutsame, sensible und fortdauernde Aufklärung wird der Mehrzahl der Mädchen in der Zukunft eine genitale Verstümmelung erspart bleiben", wie die Somalierin Asili Barre-Dirie sagt.

Der erste der fünf Abschnitte des vorliegenden Buches bietet "Daten und Fakten" über die verschiedenen Formen der Genitalverstümmelung, ihre Verbreitungsgebiete, ihre materiellen Ursachen und kulturellen Hintergründe sowie über die gesundheitlichen Folgen für die betroffenen Frauen. Im zweiten Kapitel berichten - meist - afrikanische AktivistInen über ihre Erfahrungen. Das dritte Kapitel stellt anhand von Interviews mit wiederum meist afrikanischen AktivistInnen "Aktionen und Projekte" vor. In einem weiteren Beitrag berichtet "Terre des Femmes" über ihre Öffentlichkeitsarbeit in Deutschland. Im nächsten Abschnitt wird über strafrechtliche Regelungen in Afrika und im europäischen Ausland sowie über die deutsche Asylpraxis in Zusammenhang mit Genitalverstümmlung informiert. Der letzte Abschnitt stellt Beratungsangebote für afrikanische Migrantinnen vor, die eine Genitalverstümmlung erlitten haben oder von ihr bedroht sind. Drei Exkurse schließlich gelten der Verstümmlung weiblicher Genitalien im Europa des 19. Jahrhunderts, dem "häufig bagatellisierte[n]" Thema Vorhautbeschneidung bei Jungen und dem "feministische[n] Verständnis des weiblichen Wollustorgans".

In der umfangreichen und überaus informativen Einleitung wenden sich Gritt Richter und Petra Schnüll zu recht gegen die von KulturrelativistInnen "allzu schnell" vorgebrachten "Totschlagargumente", Interventionen gegen Genitalverstümmlung machten sich der "unberechtigten Einmischung" und des "Kulturimperialismus" schuldig. Hinter einer solchen Kritik verberge sich oft "nicht viel mehr als der Versuch, mangelnde Zivilcourage als Toleranz auszugeben, um so die eigene Untätigkeit zu legitimieren". Das mag zwar so sein, doch sollte die psychologisierende Erklärung solcher Behauptungen deren inhaltliche Kritik nicht ersetzen. Die Autorinnen beschränken sich allerdings darauf zu betonen, dass "im Falle von Menschenrechtsverletzungen erst mit der Einmischung der Respekt für andere Kulturen zum Ausdruck kommt". Auch das mag so sein. Doch gab und gibt es Kulturen und kulturelle Praktiken, die durchaus keinen Respekt verdienen. Erinnert sei nur an die über Jahrtausende hinweg verbreiteten Sklavenhalterkulturen oder an die europäischen Hexen- und die indischen Witwenverbrennungen. Auch die kulturelle Praxis der genitalen Verstümmelung von Frauen gehört in diese Reihe. Nicht die kulturelle Praxis der Genitalverstümmelung, sondern "die betroffenen Frauen verdienen unseren Respekt", wie es im Titel des Beitrags von Asili Barre-Dirie heißt. Ähnlich sieht das auch Abdou Karim Sané, eine heute in Hannover lebende Afrikanerin aus dem Senegal, die in ihrem Text betont, dass "Traditionen und Rituale, die die Hälfte der Bevölkerung verstümmeln [...] nicht erhaltenswert" sind.

Dass "[w]ir so genannten zivilisierten Menschen der 'Ersten Welt'", uns angesichts der in weiten Teilen Nord- und Mittelafrikas verbreiteten Praxis der Verstümmelung der Genitalien von Frauen keineswegs zu überheben brauchen, zeigt Sabine Müller. Wir "waren nie besser und sind es auch heute nicht", erklärt sie, "nur unsere Methoden sind perfider". Und die Fachärztin für Frauenheilkunde weiß, wovon sie spricht: "Nach Operationen an Brüsten, Oberschenkeln und Hüften sind nun auch die Genitalien an der Reihe. Neben Tatoos sehe ich zunehmend Piercings mit bis zu 50 Durchstechungen pro Genital." Immer öfter suchen Frauen ihren Rat, die aus 'modischen' Gründen ihre kleinen Schamlippen verkleinern lassen wollen. Außerdem kommen zunehmend deutsche Patientinnen in ihre Praxis, bei denen sie feststellen muss, dass sie sich die Vorhaut der Klitoris entfernen ließen. Diese Frauen, warnt die Ärztin, werden noch feststellen, "dass sie den vermeintlichen Lustgewinn gegen eine schmerzhafte Hypersensibilität oder ein ausgetrocknetes Organ eingetauscht haben".

All das sind junge kulturelle Praktiken des europäischen und nordamerikanischen Kulturkreises, darum aber sind sie keineswegs besser oder schlechter als die althergebrachte, deshalb aber noch lange nicht altehrwürdige und schon gar nicht ewige Praxis der Genitalverstümmelung in Afrika. "Einbinden der Füße, Keuschheitsgürtel, Witwenverbrennung oder Beerdigung bei lebendigem Leib, Absprechung des Wahlrechts für Frauen und Sklaverei sind Kulturen der Vergangenheit, weil Kulturen dynamisch sind und nicht statisch", schreibt Comfort I. Ottah in ihrem kämpferischen Beitrag "Genug ist genug!". Warum sollte es also nicht möglich sein, dass auch die Kultur der genitalen Verstümmelung von Frauen bald der Vergangenheit angehören wird? Sei es in Europa, Afrika oder anderswo!

Titelbild

Terre des Femmes (Hg.): Schnitt in die Seele. Weibliche Genitalverstümmelung - eine fundamentale Menschenrechtsverletzung.
Mabuse Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
329 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-10: 3935964285

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