Greif alles auf der Welt!

Der poetische Kosmos in Zhai Yongmings Gedichtband "Kaffeehauslieder"

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein trefflicher Titel trifft stets mehr als nur das Werk, dem er voransteht. Vom ersten Moment an führt er ein Eigenleben und tummelt sich - oft vielfach verändert - in anderen Bereichen, bis man bald seinen Ursprung nicht mehr kennt. Auch ohne Sofia Coppolas Film "Lost in Translation" gesehen zu haben, kennt jeder das Titel-Gefühl: plötzlich löst sich die Bindung zur Welt auf, wenn man in der Fremde Wörter, Dinge und Begriffe nicht mehr versteht. Der Film zeigt die erschreckende, hauptsächlich aber die produktive Macht dieser Verwirrung.

Kaum anders steht es um die Macht poetischer Sprache; um so mehr, wenn sie aus einem so fremden Idiom wie dem Chinesischen übersetzt wurde. Wolfgang Kubin hat die glitzernden und dunklen Gedichte von Zhai Yongming in idealer Weise verdeutscht, daran kann kein Zweifel herrschen. Man merkt den Versen aus zwanzig Jahren sowohl die Veränderungen der Dichterin als auch etwas Unveränderliches an, einen Gestus, der sich viel langsamer wandelt als Formen und Inhalte. Gleichwohl vermag das Deutsche die so andere Sageweise des Chinesischen, seine individuelle Tradition und Verweiskunst, seine Kraft der Setzung nur sehr bedingt abzubilden.

Als Leser oder Übersetzer könnte man daran verzweifeln. Man kann sich aber auch dem Reiz des doppelt Fremden hingeben, der Unsicherheit und dem Rätsel, dem befreienden Glücksgefühl von "Lost in Translation". Die Frage, ob eine Wendung wie "Der Tag war einmal ein Teil auf meinen Schultern. Nun ist er fortgenommen" von Zhai Yongming stammt oder sich dem Zauber der Anverwandlung verdankt, spielt dann eine untergeordnete Rolle, weil die Wirkung der Worte wunderbar ist.

"Unmöglich, heute abend eine noch

schönere Pose anzuordnen, dein Kopf

lehnt an seinen Knien, so wie

Wasser am eigenen Felsen lehnt."

Wie hier sind es häufig einfache Worte, einfache Sätze, die Zhai Yongming aneinander reiht, die Bilder und Argumente aber sind es nicht. Natürlich darf man sich, wenn man ihre Verse über Kaffeehaus- und Bar-Impressionen aus New York liest oder den Zyklus über ein Jahr im Dorf "Stiller Frieden" einem Rausch von Eindrücken hingeben, doch darüber hinaus provoziert die Dichterin mit Fleiß das Mitdenken, reizt die Vorstellungskraft und zuweilen zum Widerspruch. Denn Emphase und Empfindlichkeit prägen Zhai Yongmings Lyrik. Wirken auch manche Zeilen wie Monologe, so spricht aus den meisten eine starke und volltönende Stimme, die gehört werden möchte, die den Leser zuruft und ihn bannt. Seltsamerweise erscheinen deshalb selbst verrätselte Rückungen erst einmal, als spreche jemand Klartext. Viele Sätze könnten sogar, aus dem Zusammenhang gerissen, als Wahlsprüche dienen und als Motti: "Er ist nicht zu hoch, der Himmel, es fehlt nur / ein Mittel zum Aufstieg". Oder: "Jeder Tag ist dem heutigen feind".

Eine dynamische Wechselwirkung zwischen Dunkelheit und Helligkeit zeichnet vor allem die frühen Verse aus und eben die große Intensität, die nicht mit Dramatik oder Theatralik verwechselt werden darf. Hymnisches und beschwörendes Erzählen ist es vielmehr, das von seiner Evidenz lebt, wie das Gedicht "Beweise":

"Ich füge meine Hände, Finsternis fällt auf das Land.

Mit ihr kommt der Traum, um mein Alter zu verderben.

Ich bin in der Falle, wie geht es weiter?

Ich stiere, trunken wie jede Dämmerung.

Ich bin das Geheimnis der Nacht, doch ohne Beweis.

...

Wenn ich mich erhebe, bin ich die blaue Flamme

des Morgens, ihr Licht macht kälter den Herbst.

Frauen, eure Anmut,

jüngst Unheil,

ist heute Stille, ein Stückchen Finsternis als Vorbild,

sich selbst zum Trost."

Das Thema "Weiblichkeit", das oft anklingt, behandelt Zhai Yongming schon im einleitenden Essay von 1985, der ein chinesisches und ein frauliches Gegenstück zur Poetik der Nacht eines Novalis bildet: "Das immanente Bewußtsein von jedem einzelnen und dem Kosmos - ich nenne dies das nächtliche Bewußtsein - macht mich zur Trägerin weiblichen Denkens, Glaubens und Fühlens. Dies ist das Gedicht.... Die dunkle Nacht hat die Kräfte meines Willens und meines Wesens in antagonistischen Konflikten noch reicher und reifer werden lassen. Gleichzeitig hat sie mutig ihre Wirklichkeit offenbart. Das Gedicht ist daher eine Suggestionskraft, die mich ganz auffüllt. Es ermöglicht mir, ein lang anhaltendes Zittern der Seele zu bewahren und so mit den Dingen außer mir ein Leib zu werden. Im blinden Herzen der Nacht werden meine Gedichte meinem Willen folgen und alles vor meiner Geburt latent in mir Verborgene ausgraben." Fragen und Bereiche umkreist die Dichterin hier, die gleichfalls für die von ihr verehrten Künstlerinnen Sylvia Plath und Frida Kahlo zentral waren. Der mexikanischen Malerin widmet sie denn auch den Zyklus "Dialog mit der Meisterin der Schere".

Zhai Yongming bevorzugt solche Zyklen und längeren Gedichte, weshalb sich keiner ihrer Texte hier vollständig zitieren lässt. Sie beweist dabei langen Atem, Rhythmiesierungskraft und Erzähllust, sie argumentiert gerne poetisch und probiert verschiedene Blickwinkel aus, um den heterogenen Eindrücken gerecht zu werden. So eindeutig einzelne Sätze klingen, so vieldeutig werden sie ja im größeren Zusammenhang, den die Dichterin nie aus dem Blick verliert. Szenen und Dialoge beleben ihre Texte, dazu viele Fragen und selten Zitate. Offensichtlich und spezifisch Chinesisches findet sich übrigens nur hie und da in Orts- oder Monatsbezeichnungen. Immer wieder erkennt man die Bezüge zu ihrer Heimat erst auf den zweiten Blick.

Lakonischer, distanzierter sei Zhai Yongming im Laufe der Zeit geworden, erläutert der Übersetzer Kubin in seinem hilfreichen Nachwort. Tatsächlich strahlen beispielsweise die titelgebenden New Yorker "Kaffeehauslieder" oder die "Berliner Gedichte" Witz und Leichtigkeit aus, ohne an existentiellem Ernst oder gedanklicher Komplexität zu verlieren; wie "Bargeflüster":

"Männern fällt das Wort nie so leicht.

Eine Zitronenscheibe zwischen den Fingern,

starre ich auf mächtige Adamsäpfel.

Doch ich nippe nur leicht am Glas

und sage zu euch: 'Nichts dran.'"

Für Zhai Yongmings Gedichte gilt das genaue Gegenteil: "Alles dran!" Der sprachliche Reichtum dieser Lyrik steht in genauer Korrespondenz zu ihrem gedanklichen, ihr thematischer in klarem Zusammenhang mit ihrem gestischen. Ein poetischer Kosmos tut sich auf in diesen fünf Dutzend Gedichten, der befremdet und bezwingt, der bezaubert und beschwingt:

"Einen Likör kosten, nach geheimem Rezept,

mit dir tanzen.

Mein Leib

Öffnet sich wie eine Blüte, die welken möchte.

Ich sage mir:

'Nimm es!

Greif alles auf der Welt!

So wie der Tod, der nichts hinterläßt.'"

Titelbild

Zhai Yongming: Kaffeehauslieder. Gedichte.
Übersetzt aus dem Chinesischen von Wolfgang Kubin.
Weidle Verlag, Bonn 2004.
113 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-10: 3931135772

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