Plädoyer für eine molekulare Anthropologie

Von der Soziobiologie zur Biosozialität - Essays von Paul Rabinow

Von Marc RölliRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marc Rölli

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von Paul Rabinow hat man seit der deutschsprachigen Übersetzung des wohl bekanntesten aller Bücher über Foucault hierzulande nichts mehr gehört - gemeint ist die zusammen mit Hubert Dreyfus geschriebene Arbeit "Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik" (1982, dt. 1987). In diesem Jahr hat der Suhrkamp Verlag unter dem Titel "Anthropologie der Vernunft. Studien zu Wissenschaft und Lebensführung" einen Band mit seinen Aufsätzen vorgelegt. Die Herausgeber Carlo Caduff und Tobias Rees nutzen die Gelegenheit für eine Würdigung seines Werks, indem sie ihren Lesern in der Einleitung einen Überblick über die wichtigsten Studien Rabinows verschaffen. Das Buch versammelt neben dem ersten und erstmals veröffentlichten Text "Probleme der Anthropologie" weitere sieben Aufsätze, die vor allem aus dem bereits 1996 erschienenen Band "Essays on the Anthropology of Reason" entnommen sind. Die Texte sind in drei Abteilungen sortiert. In gestikulierter Ehrerbietung beschließen die Herausgeber jeden Teil mit einem "Gespräch" mit dem Meister selbst. Das Buch nimmt dadurch die etwas unglückliche Form einer "Hommage" an.

Ausgangspunkt der von Rabinow vertretenen "Anthropologie" der Gegenwart ist zunächst, so erfahren wir im ersten Text, "dass sich Foucaults Prophezeiung nicht bewahrheitet hat": die Gestalt des Menschen verschwindet nicht "wie ein Gesicht im Sand am Ufer des Meeres", wie Foucault noch in den 60er Jahren behauptet hatte. Keineswegs bestimmt der Mensch als Gegenstand der Humanwissenschaften eine vorübergehende epochale Moderne. Mit Blumenberg und in dezidierter Abkehr von Heidegger begreift Rabinow das Epochendenken als Charakteristikum einer Moderne, die im Zuge der Aufklärung auch den Realismus der historischen Epochen hinter sich lässt und somit zur ursprünglichen Wortbedeutung des Begriffs als "Innehalten" oder "Einhalt gebieten" zurückkehrt. Die Epochalität des Philosophierens bezieht sich somit auf ein kritisches Ethos gegenüber der Gegenwart. Rabinow sieht dieses Ethos als machtanalytische Haltung (der "parrhesia") in der Arbeit Foucaults am Werk. Angesichts einer gegenwärtigen Formation von Macht und Wissen besteht die Aufgabe des Philosophen und Anthropologen darin, die dem Untersuchungsfeld inhärenten Gefahren von innen heraus, gewissermaßen als "Komplize" der Situation, zu analysieren. "Im Gegensatz zu den Positionen, die der frühe Foucault vertrat, steht ein Denker beim späten Foucault definitionsgemäß weder vollkommen außerhalb der betreffenden Situation, noch ist er vollkommen und ausweglos in sie verstrickt."

Mehrfach kommt Rabinow auf Foucaults Essay "Was ist Kritik?" zu sprechen, um die neue philosophische Beziehung zur Moderne und zur Aufklärung als eine bestimmte Forschungspraxis zu charakterisieren, "die auf einem Ethos der Gegenwartsorientierung, der Kontingenz und der Formgebung beruht." Von hier aus schwenkt er dann zur Anthropologie zurück. In Analogie zu der Aussage Foucaults, dass es ihm darum zu tun gewesen sei, "eine Geschichte der verschiedenen Verfahren zu entwerfen, durch die in unserer Kultur Menschen zu Subjekten gemacht werden", fordert er ein Nachdenken darüber, "wie man sich zur Frage des anthropos verhalten soll." Es geht schlicht darum, die aktuellen Formen der Lebensführung in der Spätmoderne zu analysieren. Anthropologisch ist diese Untersuchungsstrategie, nicht weil sie sich auf ein unabänderliches "Sein des Menschen" bezieht, sondern weil sie "jedes Wissen, das sich auf den Menschen bezieht, daraufhin befragt, in welcher Weise es den Menschen konstituiert", wie die Herausgeber das Arbeitsprogramm treffend umreißen. Neueste Veränderungen in den Bereichen von Arbeit, Leben und Sprache stehen nicht für einen epochalen Wandel, sondern für mikrologische und fragmentarische Verschiebungen und Ereignisse, die im Kleinen (d. h. in ganz konkreten Arbeits-, Sprach- und Lebenszusammenhängen) zu analysieren sind.

"Mit größerer Klarheit lässt sich heute jedenfalls erkennen, dass es sich bei Foucaults Menschen lediglich um eine Manifestation der Figur anthropos handelte." Die Anthropologie definiert einen unüberschreitbaren Rahmen jeder Reflexion auf das, was Foucault in seinen letzten Texten als "Subjektivierungsformen" bezeichnet hat. "Das Beobachten, Benennen und Analysieren der Formen von anthropos bildet den logos einer spezifischen Spielart der Anthropologie." Dabei stellt sich heraus, dass die machtvollsten Wirkungen dieser Formen gegenwärtig in der Sphäre des Biopolitischen liegen. "Zu den bedeutendsten, anthropos betreffenden Innovationen der 1990er Jahre sind die zwei visionären Projekte des Kartierens des menschlichen Genoms und der Bioethik bzw. deren erfolgreiche Institutionalisierung zu zählen." Besonderes Augenmerk schenkt Rabinow der These von Dezalay und Garth, dass es einen "Markt für Humanitarismus" gibt. Privilegierte Untersuchungsgegenstände sind von daher die Beziehungen zwischen Recht und Gesundheit, die Dominanz des Menschenrechts-Diskurses sowie die neuesten Transformationen im Bereich der Biotechnologie.

Rabinow pflichtet der Diagnose Hans-Jörg Rheinbergers bei, dass das (in der Molekularbiologie noch gültige) Paradigma der Repräsentation einem (für die neueren Lebenswissenschaften charakteristischen) Paradigma der Intervention gewichen ist. Er begreift diese Diagnose nicht als Ausdruck der Überschreitung einer epochalen Schwelle, sondern als "Bestandsaufnahme". Sie bedeutet, dass es in der Biologie nicht länger darum geht, mimetische Modelle der Natur zu schaffen, sondern darum, in die natürlichen Prozesse auch des menschlichen Organismus "auf der Ebene des elementaren Informationscodes" einzugreifen. "Die Einheiten, an denen und mit denen man arbeitet, müssen nicht per se schon im Organismus als funktionelle Einheiten existiert haben; Bedingung ist bloß, dass sie mit der Funktionsweise des Organismus kompatibel sind, der nunmehr als ein zusammengefügtes Milieu begriffen wird." Bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert findet Rabinow in Jacques Loeb einen Vorreiter dieses schleichenden Wandels. Zudem scheint es klar, dass die Kybernetik der Entwicklung einer als Technik praktizierten Biologie Pate gestanden hat. Denn sobald die funktionalen Elemente der Lebewesen als technische Dinge angesehen werden, sind diese Dinge auch in biologischen Techniken manipulierbar.

In den Texten der dritten Abteilung zum Thema "Wissenschaft und Lebensführung" berichtet Rabinow von konkreten Forschungsarbeiten, die - trotz eines gewissen Mangels an begrifflicher Schärfe und methodischer Schlüssigkeit - Lust machen auf seine Bücher "French DNA: Trouble in Purgatory" (Chicago 1999) und "Making PCR. A Story of Biotechnology" (Chicago 1996). Die zuletzt genannte Studie beschäftigt sich mit der ethnographischen Analyse der Geschichte der Erfindung und Entwicklung von PCR, d. i. der Polymerasen-Kettenreaktion, in Cetus, "einem der ersten Start-up-Unternehmen in Kalifornien". "French DNA" beruht auf einer Feldforschung im Centre d'Etude du Polymorphisme Humain, "einer führenden französischen Forschungsanstalt im Bereich der Genomforschung". Hieraus wird deutlich, dass Rabinow als Anthropologe arbeitet, indem er ethnografisch die "eigene Gesellschaft" und bestimmte exemplarische, in ihr herrschende Praktiken, Macht- und Wissensformen erforscht, die sich in einem bio-politischen Kontext zusammenführen lassen. Es ist genau diese ethnologische Ausrichtung seiner Anthropologie, die sie auch philosophisch interessant macht, weil sie keineswegs auf die Wiedergeburt einer obsoleten Anthropologietradition (hierzulande etwa das Dreigestirn Scheler-Plessner-Gehlen) spekuliert. Wenn Menschen aus ihren Lebenswelten zu verstehen sind, diese Lebenswelten aber eine "biosoziale" Verfassung haben, so ist es nicht länger möglich, auf der Basis traditioneller Dichotomien (Natur - Kultur) "soziobiologisch" zu denken und zu arbeiten. Denn die Biosozialität zeichnet sich laut Rabinow durch die Artifizialität der Natur (oder des biologischen Lebens) aus. Mit François Dagognet ("La maîtrise du vivant", Paris 1988) sind drei wesentliche Axiome des Naturalismus zurückzuweisen: erstens die Annahme, dass das Artifizielle der Natur nachgeordnet ist, zweitens und drittens die Annahmen, dass das Lebendige durch Selbst-Entwicklung bewiesen und durch Selbst-Regulation bestimmt ist (im Sinne einer spezifischen Differenz).

Anhand Robert Castels Analyse der aktuellen Verwendung des Risikobegriffs erläutert Rabinow den Gedanken der Biosozialität, die mit einer gewissen "Auflösung der modernistischen Gesellschaft" bzw. genauer mit bestimmten Disziplinierungstendenzen in ihr einhergeht. Der Risikobegriff transportiert "postdisziplinäre" Merkmale, insofern er auf einem Wandel der sozialen Technologien fußt, die bei gleichzeitiger Marginalisierung von Individualtherapien auf die zunehmende Bedeutung der präventiven Administration von so genannten "Risikogruppen" verweist. "Prävention bedeutet folglich nicht Überwachung von Individuen, sondern Überwachung des wahrscheinlichen Auftretens von Krankheiten, Anomalien und abweichendem Verhalten, das es zu minimieren gilt, während die Gesundheit förderndes Verhalten zu maximieren ist." Mit Hilfe einer (eventuell computergestützten) Projektion von Risikofaktoren werden Bevölkerungsgruppen neuartig de- und rekonstruiert. Rabinow orientiert sich an AIDS, um diesen Wandel im Zielobjekt von der Person zur Risikogruppe zu verdeutlichen. Ein anderes Beispiel für die aktuelle bio-politische Situation geben die genetischen Tests, die ebenfalls als präventive Maßnahmen auf Risikogruppen abzielen, nämlich auf Personen mit bestimmten genetischen Veranlagungen. Es gibt nicht nur bereits eine ganze Reihe solcher Testverfahren (für Sichelzellanämie, Mukoviszidose u. a.), sondern auch neue kollektive Identitäten, z. B. "Neurofibromatose-Gruppen, deren Mitglieder sich treffen, um Erfahrungen auszutauschen, um auf ihre Krankheit hinzuweisen, um ihre Kinder der Krankheit entsprechend zu erziehen und um ihre Umwelt ihrem Lebensumstand anzupassen." Freilich bestehen die disziplinierenden Technologien - und vor allem ihre strukturellen Merkmale wie die Stigmatisierung des Anomalen etc. - neben neueren Formen postdisziplinärer Praktiken weiter und unterhalten mannigfaltige Beziehungen zu ihnen.

In seinem gelungenen Aufsatz "Fragmentierung und Würde in der Spätmoderne" beleuchtet Rabinow die Problematik der "Biosozialität" von anderer Seite, indem er einen Aufsehen erregenden Rechtsstreit zwischen dem Privatmann John Moore und der Universität von Los Angeles analysiert. Dieser verklagte die Universität, nachdem Ärzte der universitätseigenen Klinik unter Verwendung von Zellen aus seiner operativ entfernten Milz ohne sein Wissen oder seine Einwilligung eine unsterbliche, sich selbst reproduzierende Zelllinie hergestellt hatten und sie patentieren ließen. Rabinow zeigt an diesem Fall, dass die christlichen und liberalen Grundüberzeugungen hinter der Komplexität des zu verhandelnden Problems zurückbleiben. Ihnen ist es anzulasten, dass wir den Biotechniken "kulturell unvorbereitet" gegenüberstehen. Eine Analyse der biosozialen Verhältnisse, etwa der Formen der Lebensführung von Biowissenschaftlern, zeigt, dass in den USA seit ungefähr 25 bis 30 Jahren zwischen universitärer Forschung und Industrie enge Zusammenhänge bestehen. Seitdem es rechtlich geregelt ist, dass auch lebende Materie dem bundesstaatlichen Patentrecht untersteht, "solange die Erfindung das Resultat menschlicher Intervention ist", werden von staatlicher Seite Kooperationen zwischen der freien Wirtschaft und den Universitäten intensiv gefördert. Studien belegen, dass die Biotech-Industrie einen beträchtlichen Anteil ihrer Forschungen an nordamerikanischen Universitäten finanziert, und dass umgekehrt heute ca. die Hälfte der universitären Biomediziner und Genetiker in den wissenschaftlichen Beiräten der Technologieunternehmen eine wichtige Stellung einnehmen oder finanziell von ihnen unterstützt werden. "Die vermeintlich seriöse und reine Universität stolperte Hals über Kopf in die Welt des Kapitalismus, und der biotechnologische Sektor der Industrie brachte, wie zuvor die Computerindustrie, ein modifiziertes industrielles Milieu hervor, das Teile des akademischen Lebensstils übernahm." Bleibt festzustellen, dass sich innerhalb der "Lebenswissenschaften" die Grenzen zwischen Grundlagenforschung und angewandter Wissenschaft aufgelöst haben.

Das oberste Gericht Kaliforniens bestätigte zwar den ärztlichen Vertrauensbruch, entschied aber in der Sache, dass John Moore kein Eigentumsrecht an den "technisierten" Milz-Zellen zusteht. Gleichwohl gaben die Richter zu verstehen, dass in diesem Fall die Legislative gefordert ist, neue gesetzliche Regelungen für einen neuen Rechtsbereich zu beschließen. Diese orientieren sich bis dato an den bestehenden Verordnungen über Organe, Blut, Föten, Hornhaut des Auges u. Ä., die "menschliches biologisches Material als Gegenstände res nulles [auffassen] und deren Verteilung im Hinblick auf das Gemeinwohl [regeln]." Hiermit bezeichnet Rabinow den Punkt, dass das sinnstiftende Vermögen alter und beständiger kultureller Formen (die gattungsmäßige Würde des Menschen, die Beseeltheit des menschlichen Körpers, die Unterscheidung zwischen echter Wissenschaft und kommerzieller Ausbeutung) auf seltsame Weise mit der Vorstellung vom Körper als "fragmentierter Körpermaterie" kollidiert. "Die gegenwärtige Biotechnologie und Genetik greift auf den 'Körper' zu, indem sie ihn in einen gesonderten, erforschbaren und nutzbaren Bestand molekularer und biochemischer Produkte und Ereignisse fragmentiert. Die Verpflichtung zur Fragmentierung erlaubt keinen Begriff der Person als einer Einheit mehr, die diesen spezifischen technischen Praktiken eingeschrieben wäre."

In diesem Zusammenhang macht Rabinow deutlich, dass keineswegs nur die "Lebensführung" der Wissenschaftler in den Technologie-Firmen Gegenstand der anthropologischen Analyse ist, sondern ebenso sehr die mit den Praktiken und Techniken verbundenen Vorstellungswelten, die institutionellen Vorgaben und Vernetzungen, die "moralischen Landschaften" usw. "Aus ethnographischer Warte erweisen sich die Diskurse über Ethik und Verantwortung, wie auch die Subjekte, denen sie sich zuschreiben lassen, als zentrale Komponenten dessen, was sich als Genom-Maschinerie der Gegenwart bezeichnen ließe." Es zeichnet den Anthropologen aus, über einen ethnologischen Blick zu verfügen, der dichte Beschreibungen und feinkörnige Darstellungen der sozialen Tatsachen rund um die sich entfaltenden Lebenswissenschaften möglich werden lässt. Die experimentelle Arbeit der Wissenschaftler, die zum Beispiel zur PCR führte, kommt einer wilden bricolage gleich. Im Unterschied zu Foucault konzentriert sich Rabinow weniger auf Dispositive der Vergangenheit. Stattdessen verlegt er sich auf "Gefüge" der Gegenwart - unter Verwendung des Deleuzeschen Begriffs "assemblage" -, die in sich einem permanenten Wandel unterworfen sind und eine innere Verschränkung von Ereignis und Form zum Ausdruck bringen. In diesem Sinne verzichtet er darauf, eine einzige und düstere monochrome Rationalität an die Wand zu malen und begibt sich in die komplexen Vielheiten, die den Alltag der Moderne durchkreuzen. Zweifellos sieht sich der Mensch durch die rapide Entwicklung der Biotechnologie Fragmentierungen ausgesetzt, gleichwohl verliert die Anthropologie (verstanden als Ethnologie der Moderne) nicht ihre zeitgenössische Bedeutung. Dazu zum Schluss noch einige Bemerkungen.

Rabinow wendet sich gegen den so genannten "four-field-approach", d. h. gegen die Vierteilung der Anthropologie in Kulturanthropologie, physische Anthropologie, Archäologie und Linguistik. Übertragen auf die Verhältnisse im deutschsprachigen Raum bedeutet das, dass er jeden Anspruch auf eine Synthese von (evolutions-) biologischer und kultureller bzw. in Kantischen Begriffen: physischer und pragmatischer Anthropologie zurückweist. "Angesichts der Molekularbiologie und der Biotechnologie kann es keine Synthese mehr geben." Genau mit diesem Anspruch sind aber die Herren Scheler, Gehlen usw. (zu ihrer Zeit) aufgetreten. Dagegen fordert Rabinow eine ethnologische und ethnologiekritische Reflexion für die Ausbildung einer anthropologischen Methode.

Damit stellt sich erstens das Problem des Kolonialismus. Zwar wurde vielfach vorausgesagt, dass die Anthropologie mit den postcolonial studies beerdigt wird, gleichwohl hat sich diese Prognose nicht bewahrheitet. Ihre Vitalität ist - gerade auch angesichts des Aufschwungs der "Kulturwissenschaften" - ungebrochen. Das zeigt an, so Rabinow, dass die Anthropologie als eine Disziplin, die sich auf die modernen Lebenspraktiken (und nicht auf die "primitiven Gebräuche" von beherrschten Bevölkerungen) ausrichtet, eine Zukunft hat. Es gilt, von dem in den Postkolonialismus mündenden Lernprozess, den die Wissenschaftsgeschichte der Ethnologie dokumentiert, auf der ganzen Linie zu profitieren.

Das zeigt sich zweitens im Problem des Anderen oder Fremden. Es scheint, dass mit der Entkolonialisierung die Möglichkeit eines Anderen dahinschwindet, der sich von distanzierten Beobachtern deuten lässt. Gleichwohl handelt es sich bei den Einlassungen des Ethnologen und der Ethnologin um wertvolle "epochale" Techniken, nämlich den eigenen kultur- oder lebensformspezifischen Selbstverständlichkeiten Einhalt zu gebieten und gleichzeitig "aus der Ferne" und "aus der Nähe" die entsprechenden Verhältnisse zu inspizieren: indem man etwa Feldforschung auf dem Konzerngelände eines global player betreibt. Der "Standpunkt des Eingeborenen" muss dabei aufgegeben und die Informationen dadurch gewonnen werden, dass man und frau eine teilnehmende Perspektive einnehmen - und etwa aus den (nicht notwendigerweise "wilden") Wissenschaftlern Informanten rekrutieren. Der "Andere", der sich jeder Aneignung sperrt - und doch faktisch "als Anderer" repräsentiert und "orientalisiert" wurde - wird auf die Ebene der Ereignisse transformiert, die sich hier und dort abspielen und deren detaillierte Beschreibung per se Verfremdungseffekte produziert.

Drittens kommt Rabinow auf das Problem der Moral zu sprechen, indem er den ethnologischen Grundsatz von der moralischen Neutralität erläutert. Idealiter schieben die Anthropologen jedes moralische Urteil auf und verharren bei der Beschreibung der vorgefundenen Phänomene. "Als die Anthropologie noch vorwiegend mit der Bekämpfung des Ethnozentrismus beschäftigt war, schien es unerlässlich, jedes vorschnelle Urteil zu vermeiden. Diese Neutralität, gestützt auf die zentrale ethische Prämisse des Eigenwerts aller Kulturen, wurde als Grundvoraussetzung jeder erfolgreichen Feldforschung angesehen." Es ist gerade diese Einstellung der Ethnologen, die es möglich macht, ein vergleichendes Verständnis unterschiedlicher Moralen, aber auch anderer Glaubensvorstellungen, etwa der enthusiastischen oder katastrophalen Zukunftsvisionen, die aktuell im Kontext der Technikfreunde und -feinde zirkulieren, auszubilden. Das ist umso wichtiger, als gerade viele Arbeiten im Bereich der Bioethik eine Praxis konstituieren, "in der sich ethisches Handeln kalkulieren und rationalisieren" lässt, so dass es unumgänglich ist, die Bioethik in das bio-politische Arrangement der Gegenwart zu integrieren.

Und viertens ist die Anthropologie aufgrund ihrer multidisziplinären Ausrichtung besonders geeignet, die komplexen Geschichten der "bio-sozialen Tatsachen", in denen sich ökonomische, politische, wissenschaftliche, mediale und andere Aspekte überkreuzen, als solche zu analysieren. In diesem Sinne resümiert Paul Rabinow: "Wir sind überzeugt, dass die Zeit reif ist für eine molekulare Anthropologie." Denn sie versteht es, die soziobiologischen Vorurteile hinter sich zu lassen, d. h. die sozial-modernistischen Vorstellungen von einer Kultur, die auf der Grundlage von biologischen Metaphern konstruiert ist. Sie interessiert sich für die neueste Biologie als eine Wissenschaft, die die Natur mit Hilfe "von Technik erkennt und neu herstellt" und somit die Überwindung der Trennung von Natur und Kultur darstellt. Diese Grenzen setzende Reflexion hat die molekulare, nicht molare Anthropologie den Molekularbiologen von heute anzubieten.

Noch ein Wort zum Schluss: ich habe mich in dieser Rezension darum bemüht, die wesentlichen Gedanken zusammenzutragen, die in dem Aufsatzband verstreut herumliegen, oft genug ohne konsequente Anschlüsse oder zugkräftige Argumentation. Die editorische Präsentation der Texte hat diesen Eindruck noch verstärkt. Aus diesem Grund war ich anfangs versucht, das Buch vorschnell wieder aus der Hand zu legen. Es lohnt sich aber doch, die Texte von Rabinow durchzuarbeiten. In ihrer lässigen Art verstecken sie einen kleinen Schatz, den die Leser erst einmal aufspüren müssen. Diese Rezension will es dem/der einen oder anderen leichter machen. Deshalb hat sie sich still und heimlich in eine gattungsmäßig vielleicht untypische Rekonstruktion verwandelt.


Titelbild

Paul Rabinow: Anthropologie der Vernunft. Studien zu Wissenschaft und Lebensführung.
Herausgegeben von Carlo Caduff und Tobias Rees.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Tobias Rees.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
251 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-10: 3518292463

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch