Das Vorbild

Marc Bloch, Mitbegründer und geistiger Vater der "Annales"-Schule, über den Beruf des Historikers

Von Florian FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Florian Fuchs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Marc Blochs Hauptwerk "Die Feudalgesellschaft" erschien im Herbst 1939 und war für eine ganze Generation junger französischer Historiker, welche die universitäre historiographische Tradition Frankreichs zunehmend als Belastung empfanden, zu einer entscheidenden intellektuellen Begegnung. George Duby sprach gar von einem "Erweckungserlebnis". Bloch, der aus einer jüdischen Akademikerfamilie stammte, wurde von den Nazis 1944 in der Nähe seiner Geburtsstadt Lyon als Resistance-Kämpfer ermordet. Gemeinsam mit Lucien Febvre hatte er im Krisenjahr 1929 die Zeitung "Annales" gegründet. Ungeachtet aller Differenzen zwischen den einzelnen Unter-Schulen der "Annales" beriefen sich Statistiker wie Furet, "Kliometriker" wie Simiand, "Marxisten" wie Marc Ferro oder Jean-Pierre Vernant auf Bloch als das große Vorbild. In Blochs Werk erblickten sie das Modell einer Geschichtsschreibung, das die wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Strukturen gegenüber den Schlachtengemälden der traditionellen Historiographie betonte. Erstmals lenkte Bloch die Aufmerksamkeit der Geschichtsschreibung auf das, was später von Fernand Braudel als "longue durée" bezeichnet worden ist. Damit waren die langfristigen gesellschaftlichen Tiefen-Strukturen gemeint, die man gegenüber der klassischen Ereignis- und Personengeschichte aufwertete. Nicht das geniale Individuum, sondern die Masse, die Gesellschaft rückte ins Zentrum des Interesses. Blochs Genealogie der feudalistischen Gesellschaften lieferte ein frühes Beispiel jener Gegengeschichte, für welche die "Annales" bis heute steht.

1924 war Blochs erstes Buch "Die wundertätigen Könige" erschienen, in dem er zu zeigen versuchte, wie es dazu kommen konnte, dass den Königen heilende, magische Kräfte zugesprochen wurden. Gleichwohl war Blochs Spezialgebiet die mittelalterliche Landwirtschaft. Die "Apologie der Geschichtswissenschaft oder Der Beruf des Historikers" (1944) ist der letzte Text, an dem Bloch vor seiner Ermordung arbeitete und blieb, wie auch "Die Feudalgesellschaft" (von der nur zwei Bände erschienen sind), Fragment. Das Buch, das vor allem methodologische Fragstellungen behandelt, wurde 1974 erstmals ins Deutsche übertragen und ist eine Art theoretische Summe der Forschungen Blochs. Als Ende der 80er Jahre bekannt wurde, dass die Erstausgabe "zahllose Mängel" aufwies und dass noch "weitere Manuskripte existieren", wurde eine "vollständige Neuausgabe" notwendig. Die vorliegende deutsche Version beruht auf der französischen Studienausgabe aus dem Jahr 1997.

Nicht zuletzt von Henri Bergson inspiriert, forderte Bloch, sich "auf das Leben einzulassen" und die Vergangenheit aus einer kritischen Sicht der Gegenwart anzugehen. Schließlich sei der Gedanke, "die Vergangenheit könne als solche Gegenstand einer Wissenschaft sein", "absurd". Die Historiographie war für Bloch vor allem eine "Wissenschaft der Veränderung". Die Vergangenheit sollte durch den Spiegel der Gegenwart sichtbar werden und umgekehrt. Der Historiker sei verpflichtet, "Rechenschaft ab[zu]legen", d. h. "zwischen den Phänomenen Erklärungszusammenhänge herzustellen." Die Geschichtsschreibung dürfe nicht einfach Fakten zusammentragen und sich ihren Gegenständen mit parteilichen (Vor-)Urteilen nähern, sondern müsse vielmehr um "rationale Klassifizierungen und zunehmende Verständlichkeit" bemühen. Der Historiker müsse sich "gegenüber Gelehrten wie Schuljungen gleichermaßen verständlich" machen können. Es geht Bloch dabei, wie der Herausgeber Peter Schöttler in seinem Nachwort schreibt, "weder um geschichtsphilosophische Prolegomena noch um ein System von Regeln, das man 'lernen' und 'anwenden' könnte."

Das letzte Kapitel des Buchs, dessen Realisierung von Häschern Klaus Barbies verhindert wurde, ist für Jacques Le Goff ein prophetisches Vermächtnis. Für die Historikerzunft blieben Blochs Anregungen nämlich aus mehreren Gründen aktuell: bei ihm ist noch nichts von der späteren Ontologisierung der Natur, die etwa das Werk Braudels charakterisiert, zu spüren noch jener "geographische Determinismus", der viele spätere Arbeiten der Schule zur z. T. quälenden Lektüre werden lässt. Obwohl Bloch auch einen positivistischen Wissenschaftsbegriff vertrat, war er meilenweit entfernt von der quantitativen Konjunkturgeschichte der "Kliometriker". Schon früh erkannte er die Gefahren einer vulgärpsychologischen Interpretation der Mentalitätsgeschichte und das Problem der monokausalistischen Fixierung: "Mit einem Wort, Ursachen dürfen in der Geschichtswissenschaft, wie auch überall sonst, nicht postuliert werden. Man muss sie suchen." Das aber heißt nichts Anderes, als sich der Komplexität von Geschichte als einem unabschließbaren Ganzen zu nähern, in dem alles mit allem zusammen hängt und in ständiger Veränderung begriffen ist.

Titelbild

Marc Bloch: Apologie der Geschichtswissenschaft oder Der Beruf des Historikers. Mit einem Vorwort von Jaques Le Geoff.
Herausgegeben von Peter Schöttler.
Übersetzt aus dem Französischen von Wolfram Bayer.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2002.
280 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-10: 3608941703

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