Eine Suche nach dem großen Gedanken

Über Gerhard Kellings neuen Roman "Jahreswechsel"

Von Dorothee ReinhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dorothee Reinhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"So hätte ich etwa", sagt Hanskreuf, der Erzähler des Romans "Jahreswechsel" von Gerhard Kelling, "So hätte ich ein Buch schreiben wollen, ein ehrliches, wahres Buch." Er dächte tausendundeinen Gedanken, doch könne er sich keinen davon merken, der groß genug wäre für ein Buch. Wenn der Protagonist und gleichzeitig sogar Erzähler des Romans etwas Derartiges verlauten lässt, drängt sich natürlich die Frage auf, ob denn nun der vorliegende Roman so ein Buch ist, das ehrlich und wahr ist, und das Gedanken enthält, die groß genug sind. Der Beginn des Romans, großartig erzählt, ist in dieser Hinsicht sehr verheißungsvoll. Witzig und traurig zugleich kreisen die Gedanken Hanskreufs um die eine besondere Sylvesternacht, in der er von seiner Freundin verlassen wurde. Er, der Zeit seines Lebens immer nur für Frauen gelebt hatte, dem Männer immer suspekt waren, muss erfahren, dass er mit einem anderen betrogen und schließlich verlassen wurde, ohne es bemerkt zu haben.

Auch die darauf folgende Januarstimmung ist kalt und einsam eingefangen, wie die weiteren Demütigungen, die Hanskreuf durch seine Ex-Freundin noch ertragen muss. So wird der Jahreswechsel, der ja eigentlich positiv besetzt ist, da man den Beginn eines neuen Jahres mit guten Vorsätzen, Hoffnungen und Erwartungen verbindet, ins Negative verkehrt. Desinteressiertes In-den-Tag-leben statt Neuanfang, Desillusion statt Hoffnung bestimmen die tristen Tage des Erzählers, bis er sich eines Tages entschließt, zu den (griechischen) Inseln zu reisen. Hier beginnt das "Inselgespräch" - der Monolog Hanskreufs über das Verlassenwerden, das Romanschreiben und das Leben im Allgemeinen, den er vor wechselnden Reisebekanntschaften hält.

Durch diesen Monolog, der den zweiten Teil des Romans bildet, wird deutlich, dass es Kelling nicht nur um die bloße psychologische Verarbeitung einer Trennung geht, sondern (auch) um das Verhältnis zur Gesellschaft. Einsamkeit und Vereinzelung bilden das Lebensgefühl derjenigen, die nicht 'normal' sind, die nicht nach Erfolg und Geld streben. Jenseits dieser 'richtigen' Seite der Gesellschaft gibt es keine Wärme, keine Anpassung und keine Identität. Diese Ansicht oder, wenn man so will, Einsicht bleibt bis zum Schluss erhalten; daran ändert auch der für den Erzähler versöhnliche Ausgang des Romans nichts. Dem wird nämlich eine hässliche Szene entgegengesetzt, in der ein Drogenabhängiger von drei gut gekleideten Männern verprügelt wird, weil jener es wagte, sich in der Öffentlichkeit zu erleichtern. So ist das großspurig wütende Gezeter Hanskreufs gegen die mächtige Seite der Gesellschaft, das ja offensichtlich aus seiner banalen Trennungssituation herrührt, wohl nicht nur ironisch gemeint.

Der dritte Teil des Romans spielt wieder in Hamburg, schließt also an den ersten an. Aus der Januar- ist nun eine Herbststimmung geworden, und wieder verbringt Hanskreuf lange einsame Tage. Seine Welt war für ein Jahr aus den Fugen geraten und erst ganz zum Schluss beendet er die Flucht vor seinem Kummer und findet ein neues Zuhause - zum Jahreswechsel.

Handelt es sich aber nun, um auf die anfängliche Frage zurückzukommen, handelt es sich bei dem Roman "Jahreswechsel" von Gerhard Kelling um einen großen Roman? Was so viel versprechend begann mit der witzig-traurigen Beschreibung der entscheidenden Sylvesternacht, vermag danach nicht mehr zu überzeugen. Zwar wird zunächst noch die Atmosphäre von Trennung und Winter ganz treffend eingefangen; zwar ist das "ewige Inselgespräch", von dem der Erzähler berichtet, eine interessante Idee; zwar gibt es einige wenige sehr gelungene und bewegende Szenen, wie zum Beispiel das alles um sich herum vergessende fremde Pärchen auf dem Rockkonzert oder die Sache mit der Katze, die Hanskreuf aus Versehen und aus Zuneigung tötet ... Aber!

Vielleicht ist es ja nur eine Aversion gegen Erzähler, die vorgeben, sich nicht ernst zu nehmen, einen aber hinterrücks erschlagen mit ihrer Wichtigkeit und Selbstbeweihräucherung. Doch auch wenn Hanskreuf ins Bordell geht, einem Hund beim Koten zuschaut oder Regen toll findet (alle anderen mögen nur Sonnenschein), macht ihn das nicht zu einer interessanten Gestalt. Hier fehlt die erzählerische Kraft, die selbst etwas Banales, Prosaisches in einen großen Gedanken zu verwandeln vermag. Ebenso sind die anderen Figuren außer vielleicht die der Ex-Freundin eher fad und wenig originell. Hanskreuf trifft auf die üblichen Großstadtgestalten, die, eher lieblos gezeichnet, kein eigenes Leben entwickeln können: Martina, eine alkoholkranke Vegetarierin, Rachelle, die in einer WG wohnt, in der man Wein aus Zweiliterflaschen trinkt, Schauspieler, die nur an ihrer gegenwärtigen Rolle interessiert sind usw.

So schafft es Gerhard Kelling, der für seinen Roman "Beckersons Buch" mit dem Rauriser Literaturpreis ausgezeichnet wurde, in "Jahreswechsel" nicht, dem Maßstab, den er durch seinen Erzähler selbst aufstellt, gerecht zu werden. Der Roman erscheint daher eher als Reflektion über das Erzählen eines großen Gedankens oder auch als Suche danach. Was ja wiederum als Idee nicht uninteressant wäre - zum Lesen allerdings denkbar langweilig.

Titelbild

Gerhard Kelling: Jahreswechsel. Roman.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
167 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-10: 3518414615

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch