Systemtheorie - eine Supertheorie für die Gender Studies?

Studien zum Theorietransfer zwischen Gender Studies und Systemtheorie

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lange Zeit galten Systemtheorie und Gender Studies weithin als einander grundlegend fremde Gebiete. Erst seit einigen Jahren mehren sich die Versuche, sie fruchtbar aufeinander zu beziehen. So gaben Ursula Pasero und Christine Weinbach im Jahre 2003 einen Band mit systemtheoretischen Essays zum nach wie vor virulenten Gender Trouble heraus. Nun folgen Sabine Kampmann, Alexandra Karentzos und Thomas Küpper mit einer Aufsatzsammlung, die einen Theorietransfer zwischen Gender Studies und Systemtheorie erprobt.

Systemtheorie, so erklären die HerausgeberInnen in der Einleitung, biete den Gender Studies einen "kohärenten Bezugrahmen", um die Kategorie Geschlecht "im Spannungsfeld einer Gesellschaft zu verorten", die aus "autonomen, miteinander korrelierenden Subsystemen" bestehe. Die Gender Studies wiederum könnten auf "in der Systemtheorie bisher unbeachtet" gebliebene "Aspekte" hinweisen; so etwa darauf, wie Sexuierungen (in) der Gesellschaft erfolgen. Ein offenbar asymmetrisches Verhältnis, bei dem der Systemtheorie der Part einer fundierenden Theorie zufällt, während die Gender Studies sich damit begnügen sollen, den Einzugsbereich der Systemtheorie um ein Problemfeld zu erweitern. Es ist nur schwer vorstellbar, dass dieses Ansinnen in größeren Kreisen der GeschlechterforscherInnen und -theoretikerInnen auf ungeteilten Beifall stoßen wird.

Nicht, wie man vermuten könnte, zur soziologischen Geschlechterforschung, sondern zu den von Kunst- und LiteraturwissenschaftlerInnen betriebenen Gender Studies sehen die HerausgeberInnen eine besondere Affinität der Systemtheorie, da sich in Literatur und bildender Kunst, so die Begründung der HerausgeberInnen, Geschlechterkonstruktionen "manifestieren". Zudem verfügten die entsprechenden wissenschaftlichen Disziplinen über ein "reiches Instrumentarium", historische Semantiken zu analysieren.

Die ersten beiden, von Kai-Uwe Hellmann und Christine Weinbach verfassten Beiträge fassen jedoch keine literatur- oder kunstwissenschaftlichen Themen ins Auge. Zunächst wendet sich Kai-Uwe Hellmann Niklas Luhmanns 1988 veröffentlichter, gegen die damalige Frauenforschung gerichteter Polemik "Frauen, Männer und George Spencer Brown" sowie deren Repliken auf den Angriff des Gründervaters der Systemtheorie zu. Hellmann, der einerseits seine Neigung zur Systemtheorie nicht verhehlen mag, die Gender Studies hingegen für überbewertet hält, erklärt, Geschlecht eigne sich zwar "als eine Kategorie der Gesellschaftstheorie", doch nur "neben vielen anderen, die allesamt kein Privileg auf Präferierung beanspruchen können", womit er beiläufig eine Kategorienbeliebigkeit deklariert, der weder in den Blick geraten kann, dass und warum bestimmte Analysekategorien erkenntnisstiftender sein könnten als andere, noch dass für verschiedene Gesellschaften oder (Sub-)Kulturen je andere Differenzkategorien von besonderer Relevanz sein können. Abschließend konstatiert er mit offenbarem Bedauern, dass es Luhmanns "Supertheorie" bis heute nicht gelungen sei, "auf die Frauenforschung nachhaltig Eindruck, genauer positiven Eindruck zu machen". Umgekehrt, so fährt er fort, sei ihm "nicht bekannt, dass die Gender Studies einen nachweisbaren Einfluss auf die Systemtheorie genommen haben." Womit er en passant Frauenforschung und Gender Studies in eins setzt, obwohl er selbst zuvor eine positive Entwicklung von jener zu diesen konzediert hat.

Ebenso wie Hellmann meint auch Christine Weinbach in ihrem Aufsatz zur "geschlechtliche[n] Ungleichheit in der funktional differenzierten Gesellschaft" nur die soziologisch orientierten Gender Studies, wenn sie ganz allgemein von Geschlechterforschung spricht. Doch machen weder er noch sie diese Reduktion explizit. Um ihre durchaus plausible These zu stärken, derzufolge die Differenz zwischen "expliziter Thematisierung durch die Kommunikation" und der "Wahrnehmung des sozialen Körpereinsatzes der inkludierenden Bewusstseinssysteme" die "Bedingung der Möglichkeit 'heimlicher' geschlechtlicher Diskriminierung" bildet, ergänzt sie Luhmanns Personenbegriff um Bourdieus Habitusbegriff, den sie allerdings um seine psychische Dimension verkürzt, indem sie ihn auf seinen sozialen Aspekt begrenzt.

Erst nachdem Natalie Binczek Luhmann mit Haraway gelesen hat, um so Licht in die "Biologie der Medium/Form-Unterscheidung" zu bringen, wendet sich ein erster Beitrag einem literaturwissenschaftlichen Thema zu: Bettina Gruber untersucht anhand der Lektüre von Baudelaires "Une Charogne" "Gender als Strategie von Dauer". Auch Dagmar Steinweg widmet sich mit "Geschlechterdifferenz und literarische Wertung in der russischen Kultur um 1900" einem literaturwissenschaftlichen Thema. In ihrem interessanten Aufsatz beleuchtet sie den im Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts virulenten Begriff "Pošlyi", der ein Werk bezeichnet, "das nur vorgibt Kunst zu sein, der hohen Kunst anzugehören", so dass mit dem Begriff "die Vorstellung einer Fälschung oder zumindest einer Hochstapelei assoziiert" ist. Die Autorin kann anhand der "Tradition der Feminisierung der pošlost'" zeigen, dass das "pošlost'-Konzept" nicht zuletzt als "Mechanismus" zum Ausschluss von Frauen aus der Literatur- und Kunstproduktion diente.

Thomas Küpper, der sich "Kitsch und Camp aus evolutionstheoretischer Sicht" nähert, und Alexandra Karenzos, die die "Kunst der Beobachtung" pflegt, liefern aufschlussreiche Anregungen, wie und wo sich Systemtheorie für die Gender Studies als fruchtbar erweisen können. Küpper weist darauf hin, dass Butlers theoretisches Konzept zur Analyse subversiver Praktiken durch das systemtheoretische Modell der "Evolution sozialer Systeme" eine sinnvolle Ergänzung erfahren würde, da Letzteres ermögliche, "Geschlechterkonzeptionen in ihrer Instabilität, ihrer Kontingenz und ihrer Anfälligkeit für Veränderung zu betrachten". Karenzos wendet sich in ihrem "Manifest für Ironiker/innen" dem Begriff der Ironie zu, der von den Gender Studies "häufig unscharf" verwendet werde. Mit Hilfe der Systemtheorie und dem von Luhmann unter Bezugnahme auf Heinz von Foerster entwickelten Modell der "Beobachtung zweiter Ordnung" könne der für den "spielerische[n] Umgang" der Gender Studies mit Sinnkonstruktionen wichtige Terminus genauer gefasst werden.

Sabine Kampmann schließlich setzt mit ihrem ebenso erhellenden wie erfrischend zu lesenden Beitrag über die (post-)feministische Künstlerin Pipilotti Rist den glänzenden Schlusspunkt des Bandes.

Titelbild

Sabine Kampmann / Alexandra Karentzos / Thomas Küpper (Hg.): Gender Studies und Systemtheorie. Studien zu einem Theorietransfer.
Transcript Verlag, Bielefeld 2004.
209 Seiten, 22,80 EUR.
ISBN-10: 3899421973

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