Verlegen als kulturelle Praxis

Helen Müllers Problemgeschichte des Verlagsunternehmens von Walter de Gruyter

Von Dietmar TillRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Till

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im "Börsenblatt für den deutschen Buchhandel", dem zentralen Organ der Branche, erschien 1894 ein zunächst reichlich kurios anmutendes Inserat: "Vermögender Kaufmann, 31 J. alt, verheiratet, Dr. phil. (Germanist), sucht Beziehungen, die zur thätigen Mitinhaberschaft oder Übernahme einer angesehenen Verlagsbuchhandlung oder Verlagsanstalt führen können." Aufgeben hat es Walter de Gruyter, ein aus dem Rheinland stammender, vermögender Industrieller, der in Leipzig bei Friedrich Zarncke promoviert hatte und sich nun anschickte, als "Verleger der Nation" das intellektuelle Profil des wilhelminischen Kaiserreichs und der Weimarer Republik bis zu seinem Tode 1923 entscheidend zu prägen. Auf Vermittlung des Leipziger Kommissionsverlegers Franz Koehler kam de Gruyter in Kontakt mit Ernst Reimer, dem Inhaber des Georg Reimer Verlages. Bereits im 18. Jahrhundert gegründet, wurde der Reimer Verlag im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts zu einem der wichtigsten deutschen Verlage. Hier wurden die bedeutendsten Werke der deutschen Romantiker verlegt, u. a. die Bücher von Heinrich von Kleist, Ernst Moritz Arndt, Ludwig Tieck, Achim von Arnim, Jakob und Wilhelm Grimm, Wilhelm von Humboldt und nicht zuletzt die theologischen Schriften Friedrich Schleiermachers. Unter der Führung von Georg Ernst Reimer verlegte der Verlag seinen Schwerpunkt auf die Universitätswissenschaften und wurde zu einem der zentralen Wissenschaftsverlage. Dabei vertraten Verlag wie Inhaber einen liberalen Protestantismus, der sich programmatisch etwa in der "Hauszeitschrift" des Reimer'schen Verlages, den "Preußischen Jahrbüchern", zeigte. Mit seiner Konzentration auf die Altertumswissenschaften und seiner Nähe zur Preußischen Akademie der Wissenschaften und ihren publizistischen Großprojekten vertrat Reimer einen "Berliner Geist", wie er für die Jahre vor 1900 durchaus charakteristisch war.

In diesen Verlag trat Walter de Gruyter 1894 zunächst als Volontär ein: Der Georg Reimer Verlag hatte seit 1885 einen kontinuierlichen Abstieg erlebt: Er verlor in der sich am Ende des 19. Jahrhunderts radikal wandelnden Wissenschaftslandschaft, in der sich die "Organisations- und Kommunikationsformen der Wissenschaften" nachhaltig veränderten, an Bedeutung. Der Verlag galt zwar noch als eine Berliner "Institution", drohte aber mit seiner konservativen Verlagsstrategie den Anschluss an die stark expandierende Verlagsindustrie zu verlieren. Diesen angesehenen Verlag kaufte de Gruyter 1897 schließlich und führte ihn zunächst im Sinne der elitären, ganz auf "Wissenschaftlichkeit" gerichteten Verlagspolitik Ernst Reimers fort. Doch dabei blieb es nicht: 1898 trat de Gruyter in die Geschäftsführung der J. Guttentag Verlagsbuchhandlung, einem juristischen Spezialverlag, ein, 1906 wurde er Teilhaber des Verlages Karl J. Trübner, der sich auf Sprach- und Literaturwissenschaft sowie die damals prominente germanische Altertumskunde konzentrierte, 1919 erwarb er den Verlag Veit & Comp. und bereits 1911 die traditionsreiche J. G. Göschen'sche Verlagshandlung, eine Gründung der Spätaufklärung, die durch ihre Ausgaben von Werken der deutschen Klassik (unter anderem Goethe und Schiller) bekannt war. De Gruyter beließ den Unternehmen zunächst weitgehend ihre Selbständigkeit - was ihm Sympathien anderer Buchhändler eintrug und seine gesellschaftliche Position festigte - und vereinigte sie erst 1919 zu einer einzigen Firma, der "Vereinigung wissenschaftlicher Verleger" (seit 1923 "Verlag Walter de Gruyter & Co").

Die Jahrzehnte zwischen dem Eintritt de Gruyters in den Georg Reimer Verlag und der Auflösung des Firmenkonglomerates infolge der Gründung der "Vereinigung" zeichnet Helen Müller in ihrer Studie nach. Wohltuend an der konzis geschriebenen Arbeit ist dabei nicht zuletzt, dass das Buch keine Verlags-Hagiografie ist. Müller beschreibt eindrücklich, wie sich Walter de Gruyter an die intellektuelle Tradition des liberalen Reimer Verlages anschloss und dabei unternehmerisch nicht immer glücklich agierte. Die Arbeit argumentiert in den drei Hauptkapiteln stets problembezogen, erschöpft sich also in keinem Fall in einer einfachen Nacherzählung der Verlagsgeschichte. Die Probleme, die sich dem Verlagswesen um 1900 stellten, werden von Müller im Spannungsfeld von Wissenschaftlichkeit, den unterschiedlichen Öffentlichkeiten und schließlich den sich immer stärker spezialisierenden Disziplinen situiert. Sie arbeitet dabei mit einem dynamischen Modell der Interaktion zwischen diesen Bereichen, das auf die Kultursoziologie Bourdieus zurückgreift und Verlagsgeschichte als Geschichte eines Spannungsfeldes zwischen Verlag und Wissenschaft beschreibt, das in beide Richtungen seine Wirksamkeit entfalten kann. Paradigmatisch zeigt sich dies an dem "Wissensformen, Markt und Öffentlichkeit um 1900" überschriebenen Zentralkapitel der Studie: Einerseits erreichten die Verleger um 1900 mit populärwissenschaftlichen Reihen wie "Aus Natur und Geisteswelt" (im Verlag B. G. Teubner) und "Wissenschaft und Bildung" (bei Quelle und Mayer) beträchtliche Auflagenzahlen und verschafften den Verlagen auf diese Weise eine gesicherte ökonomische Grundlage, andererseits war die Haltung der etablierten Wissenschaftler, insbesondere die der älteren Generation, zu den popularisierenden Werken insgesamt deutlich negativ. Die Verlage setzten also letztlich ihre wissenschaftliche Reputation aufs Spiel - und damit eine Form von "Kapital" im Sinne Bourdieus, das, einmal verloren, so leicht nicht wiederzugewinnen war. Helen Müller macht anschaulich, wie de Gruyter mit dem Kauf des Göschen Verlages, der mit der "Sammlung Göschen" eine bereits etablierte und angesehene popularisierende Reihe besaß, erst spät auf das Bedürfnis der Öffentlichkeit nach Vermittlung des explodierenden Wissens reagierte, wenngleich er dies mit großen Erfolg tat.

Die Studie zeigt an zwei Beispielen zugleich, wie eine solche Vermittlungsleistung zwischen Wissenschaft, Verlag und Öffentlichkeit leicht scheitern konnte. Im Falle der "Akademie-Ausgabe" von Kants Werken (seit 1902) versuchte de Gruyter die von Neukantianismus und Weltanschauungsphilosophie neu entfachte Nachfrage nach Ausgaben von Kants Werken zu befriedigen und gleichzeitig dem konservativen Erbe des Reimer Verlages mit seinen traditionell engen Beziehungen zur Preußischen Akademie treu zu bleiben - mit insgesamt nur wenig wirtschaftlichem Erfolg, wie die Verfasserin anhand von unpubliziertem Archivmaterial präzise belegen kann. Allerdings waren auch in diesem Fall wohl weniger materielle als strategische Überlegungen leitend, denn mit der bewussten Fortführung der Reimer'schen Verlagspolitik häufte der "Neuankömmling" de Gruyter beträchtliches symbolisches Kapital an.

Müllers Darstellung der Publikation der "Deutschen Südpolarexpedition 1901-1903" zeigt im Gegenzug, wie de Gruyters Bestrebungen um ein auflagenstarkes, populärwissenschaftliches Werk scheitern konnten, weil der Verleger den Markt prinzipiell falsch einschätzte. Die Publikation der 20-bändigen Dokumentation (abgeschlossen erst 1931) der Expedition bedeutete für den Verleger ein großes Risiko, und die 1904 erschienene populärwissenschaftliche Darstellung "Zum Kontinent des eisigen Südens" aus der Feder von Erich von Drygalski, dem Leiter der Polarexpedition, war für den Verlag ein wirtschaftlicher Misserfolg, weil sich das trocken geschriebene Buch nur äußerst schleppend verkaufte. De Gruyter allerdings hatte durch die Akquisition des öffentlich ausgeschriebenen Publikationsauftrages beträchtlich an Ansehen gewonnen. Die Nähe zu den politischen Institutionen des Kaiserreiches und eine Forschungs- und Publikationspolitik, die sich von den Bedürfnissen und Erfordernissen des Marktes durch staatliche Zuschüsse frei machen wollte, entsprach im Übrigen auch seinen Vorstellungen von Wissenschaftlichkeit und dem de Gruyter'schen Verlagskonglomerat als Publikationsort einer durch und durch elitär verstandenen Wissenschaft.

Helen Müllers Studie zeichnet also insgesamt ein durchaus überraschendes, weil widersprüchliches Bild eines Verlagsunternehmens, dessen Erfolgsgeschichte uns bislang fast selbstverständlich erschien. Weil die Verfasserin ein Modell einer integrativen Verlagsgeschichte zur Grundlage ihrer Darstellung macht, eröffnet ihre Arbeit zugleich grundsätzliche Einblicke in die Kulturgeschichte des wilhelminischen Kaiserreiches. Das durchgängig auf der Basis unpublizierten Archivmaterials gearbeitete Buch ist eine der wichtigsten neueren Publikationen zur Verlagsgeschichte um 1900.

Titelbild

Helen Müller: Wissenschaft und Markt um 1900. Das Verlagsunternehmen Walter de Gruyters im literarischen Feld der Jahrhundertwende.
Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2004.
245 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-10: 3484351047

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