Ein Buch über die Traurigkeit: alles andere als ein trauriges Ereignis

Über den von Kathy Zarnegin herausgegebenen Sammelband "buchstäblich traurig"

Von Julia SchmitzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Schmitz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Über viele Gefühle wurde viel geschrieben. Vor allem in letzter Zeit. Dabei ist das Gefühl der Traurigkeit jedoch immer ein wenig vernachlässigt worden. Der wissenschaftliche Diskurs hat sich dabei meist nur mit einer ganz bestimmten Form der Trauer, nämlich der Melancholie, auseinander gesetzt. Das hängt zum einen mit der dem Melancholiker zugeschriebenen Mitteilsamkeit zusammen. Zum anderen macht der die Melancholie umhüllende Schein von Intellektualität und hoher Selbstreflexion diese diskursfähig und erhebt sie gleichzeitig über die bloße Betroffenheit und andere Formen der Traurigkeit.

Der Sammelband von Kathy Zarnegin versucht dieser einseitigen Betrachtungsweise entgegenzuwirken, indem er sich den verschiedenen Facetten der Trauer nähert und sie auch von verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen untersuchen lässt. In diesem Band stehen Texte von Literaturwissenschaftlern, die den Themenkomplex "Trauer- Tragik/Trauerspiel und Tragödie" umkreisen, neben Essays von Psychoanalytikern, Religionswissenschaftlern und Medizinern.

Der Germanist und Philosoph Marc Sagnol geht der Frage nach, wie man Trauer eigentlich von Tragik abgrenzen kann. Dabei beschäftigt er sich nicht nur mit der begrifflichen Abgrenzung, sondern vor allem auch mit der Theorie vom Trauerspiel und der Tragödie bei Walter Benjamin. Benjamin versuche den Begriff der Trauer, den manche Philosophen als bloße Herabstufung des Tragischen eingestuft haben, zu rehabilitieren.

Dass die Trauer auch positive Facetten in sich birgt, zeigen die Beiträge von Michael Turnheim und Alfred Bodenheimer. Der Psychoanalytiker Michael Turnheim hat bei seinen Studien entdeckt, dass Freud zwei Auffassungen von Trauer gehabt hat. Eine offizielle, wie sie in seiner berühmten Schrift "Trauer und Melancholie" vertreten wird, und eine private, die die offizielle zwar nicht komplett revidiert, aber in einer entscheidenden Nuance verändert. Behauptet er noch 1917 in seiner Theorie, dass bei der gelungenen Trauerarbeit das verlorene Objekt restlos ersetzt werden kann, was die Libido wieder frei und beweglich werden lässt, schreibt er 1929 in einem Brief, dass im Grunde nie ein Ersatz für eine geliebte, verstorbene Person gefunden werden könne und dass es sich hierbei schließlich auch um "die einzige Art, die Liebe fortzusetzen" handele. Die Unfähigkeit, die Trauer komplett zu überwinden, wird hier nicht als pathologisch deklassiert, sondern zu einer positiven Eigenschaft aufgewertet, da sie als ein Indikator für wahre Liebe gesehen werden kann.

Auch der Religionswissenschaftler Alfred Bodenheimer stößt bei seinen Analysen der Verschriftlichung der Trauer im jüdischen Glauben auf eine positive Funktion. So kommt er zu dem Ergebnis, dass die verschriftlichte Trauer nicht nur zur "Perpetuierung und permanente[n] Abrufbarkeit" der Trauer beiträgt, sondern auch die "Möglichkeit der [...] konstitutiven Kollektivbildung" birgt. Damit bekommt die Trauer ebenfalls eine positive, nämlich gemeinschaftsstiftende Facette.

Relativ traurig sind dagegen die Erkenntnisse, zu denen Kathy Zarnegin innerhalb ihrer geschlechterspezifischen Untersuchungen kommt. Während hinter der männlichen Trauer immer auch eine irgendwie geformte Vergeistigung und Reflexion vermutet wurde, wurde der weiblichen Trauer jeglicher Zug von Intellektualität genommen. Die Geschlechtergrenze kann als einzige durchgängige Demarkationslinie zwischen den Symptombildern Melancholie und Hysterie gesehen werden, weil zwischen dem Potpourri der körperlichen Symptome der Melancholie und denen der Hysterie kaum signifikante Unterschiede zu erkennen seien. Doch über die Zeit hinweg wurde die Hysterie immer als negative Erscheinung wahrgenommen, während der Melancholie sogar eine gewisse Erhabenheit anhaftete. Zarnegin betrachtet die Hysterie jedoch als verhüllten Trauerdiskurs. Verhüllt insofern, weil sie zwar deutlich wahrnehmbar, aber nicht so leicht entschlüsselbar ist - wie eine Stimme ohne Sprache.

Das Krankheitsbild der Depression habe dann eine gewisse Neutralisierung von Hysterie und Melancholie bewirkt, weil beide in dieses neue Krankheitsbild eingeflossen seien. Nach Zarnegin gehe diese Entwicklung jedoch keineswegs mit einer völligen Aufhebung der Geschlechterdifferenzen einher, denn gerade die Depression gelte vor allem als Krankheit der Frauen. So kann Kathy Zarnegin ihren Aufsatz nicht anders beenden als mit den Worten: "wenn das nicht zum Weinen ist".

Der Sammelband ist insgesamt jedoch nicht zum Weinen, sondern bietet eine erfreulich vielseitige Lektüre. Denn er stellt, einem kulturwissenschaftlichen Ansatz folgend, ein Gefühl in den Mittelpunkt der Betrachtungen, und zwar aus ganz verschiedenen Perspektiven. Hinzu kommen literarische Texte von Autoren, die die Traurigkeit spürbar machen und zeigen, wie literarische Texte heute Trauer ausdrücken. Dass Traurigkeit vor allem mit dem Gefühl der Leere korrelieren kann, drückt der literarische Text von Peter Weber aus. Aus ganz anderen Gründen wirken die Gedichte von Ulrike Draesner traurig. Wie Lyrik aus dem OP kommen ihre Gedichte über Krankheit und Fehlgeburten daher und lassen Leid empfinden.

Gerade der Blick auf die Sprachwerdung der Trauer ist interessant, sind doch seit der Antike Trauer und Schweigen Zwillingstopoi. Auf der anderen Seite gibt es kaum ein Gefühl, das je mehr zum Schreiben inspiriert hätte als die Traurigkeit. Das Nebeneinander von literarischen und wissenschaftlichen Texten macht den Reiz dieses Bandes aus, da man nicht in die Gefahr kommt, sich in theoretischer Abstraktion zu verlieren.

Titelbild

Kathy Zarnegin (Hg.): buchstäblich traurig.
Schwabe Verlag, Basel 2004.
201 Seiten, 29,50 EUR.
ISBN-10: 379652009X
ISBN-13: 9783796520099

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