Das Rauschen des Realen

Der Ausstellungskatalog "Wirklich wahr!" dekodiert die visuellen Darstellungsstrategien des Echten

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Fotografien haben einen scheinbar unmittelbaren Wirklichkeitsbezug. Kaum ein anderes Medium besitzt so viel Glaubwürdigkeit. Die anfangs detailgetreue Abbildung der Gegenstände vor der Linse und der spätere massenhafte Gebrauch der Fotokamera als Dokumentationsmittel haben der Fotografie einen enormen Vertrauensvorsprung verschafft.

Dabei bringen selbst vermeintlich streng dokumentarische Fotografien keine "realistischen" Abbilder der Wirklichkeit hervor; sie sind immer das Ergebnis gesellschaftlicher und sozialer Wirklichkeitsdeutungen - und bestimmter visueller Strategien, diese umzusetzen. Auch wenn Fotografien unter Bedingungen entstehen, die sie physisch dazu zwingen, dem Original Punkt für Punkt zu entsprechen, ist der Spielraum von Gestaltung und Inszenierung, Absichtslosigkeit und Kontingenz unermesslich groß.

Doch warum glauben wir den Realitätsversprechen, die Fotografien in Journalismus, Dokumentation und Wissenschaft uns geben? Warum vergessen wir bei der Betrachtung von Bildern das Medium entweder ganz und verlassen uns auf das Objektiv der Kamera als Garanten für Echtheit? Durch welche fotografischen Mittel wird unser Vertrauen in die Glaubwürdigkeit der Bilder geweckt? Auch Fotos in Kunst und Werbung benutzen immer häufiger "realistische" Methoden, um unsere Aufmerksamkeit zu erregen und so ihre Ziele zu erreichen.

Der Begleitband zur Ausstellung "Wirklich wahr!" (vom 6.6.-26.9.2004 im Ruhrlandmuseum Essen) lässt die "Wahrhaftigkeit" erzeugenden visuellen Strategien in genreübergreifenden Gegenüberstellungen bewusst werden: Thematische Gruppierungen wie "Vertraute Nähe", Fremdbilder" und "Wahre Gefühle" schärfen den Blick für eine Ikonografie des Echten, Realen und Wahren und ermöglichen so eine vom jeweiligen Verwertungszusammenhang unabhängige Analyse der bildsprachlichen Mittel.

Den Anschein des Echten kann vieles auslösen: der direkte Blick des Dargestellten ins Kameraobjektiv, der den Fotografen enttarnt und seinen Anteil am Geschehen beglaubigt; "künstlich" getroffene Arrangements für die Medien (z. B. Bilder von Politiker-Treffen), wo paradoxerweise gerade die offenkundige Inszenierung als Merkmal des Echten durchgeht; die Nähe des Fotografen als teilnehmender Beobachter (z. B. bei Familienfotos). Oder einfach die Darstellung "authentischer" Gefühle, bei der der Betrachter in seinem Bedürfnis nach Deutung körpersprachlicher Signale nur allzu gern den Status der Fotografie in einem gegebenen Kontext vergisst.

Titelbild

Wirklich wahr! Realitätsversprechen von Fotografien.
Herausgegeben von Stefanie Grebe, Sigrid Schneider und vom Ruhrlandmuseum Essen.
Hatje Cantz Verlag, Stuttgart 2004.
220 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-10: 3775714545

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