"Aber das sind ganz nebensächliche Klagen!"

Der Briefwechsel zwischen Johannes Bobrowski und Michael Hamburger

Von Andreas DegenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Degen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Briefe sind eine schöne, wenngleich im Schwinden begriffene Beschäftigung. Dies gilt bisweilen nicht nur für Schreiber und Empfänger, sondern - wie im Fall des von Jochen Meyer für die Deutsche Schillergesellschaft vorzüglich herausgegebenen und kommentierten Briefwechsels von Johannes Bobrowski und Michael Hamburger - auch für den späteren Leser. Mit einem Abstand von vierzig Jahren vernimmt er aus den nach Ost-Berlin bzw. Reading und London gesandten Briefen des in Königsberg aufgewachsenen Lyrikers und Erzählers und des 1933 aus Berlin emigrierten deutsch-englischen Übersetzers, Lyrikers und Literaturwissenschaftlers einen warmen, einvernehmlichen, doch auch zurückhaltenden Ton: Ein halbes Jahr nachdem sich Bobrowski und Hamburger auf einer Tagung der Evangelischen Akademie Berlin-Brandenburg im Dezember 1962 kennen gelernt und einander zu schreiben begonnen hatten, gingen sie dazu über, sich beim Vornamen zu nennen, behielten die Höflichkeitsform jedoch selbst nach zwei Besuchen Hamburgers bei Bobrowskis bei.

Übermütige Formulierungen oder harsche Urteile, für den privaten Bobrowski keine Seltenheit, wird man in diesen Briefen vergeblich suchen. Auch wer auf spektakuläre oder pikante Details aus ist oder sich neue Aufschlüsse über Bobrowskis Werk verspricht, wird enttäuscht sein; zu distinguiert ist das Verhältnis der Schreiber, zu gründlich wurden die Briefe bereits für die Kommentarbände der Werkausgabe und den Katalog der Marbacher Bobrowski-Ausstellung ausgewertet. Nicht bekannt - jedenfalls in ihrer Zusammenstellung - sind die drei Gedichte Hamburgers über Bobrowski. Obwohl allen philologischen Kriterien genügend, ist also das dunkelrote Bändchen der Reihe "Marbacher Bibliothek", das sich in die Publikationen im Vorfeld des 40. Todesjahres Bobrowskis einreiht, vor allem ein Buch für Liebhaber. Der Gewinn, der aus der Lektüre des 46 Briefe zu erzielen ist, liegt weniger in ihren Informationen als in ihrer Konstellation: in ihrem dichten Zusammenrücken von Alltag, Familie, Schreiben und Literaturbetrieb, in den wechselseitigen Anfragen und Hilfeleistungen bei Übersetzungs- und Rechercheproblemen, in der intensiven Annäherung des ersten Jahres, aus dem fast zwei Drittel der Briefe stammen, und dem allmählichen, wohl auch Bobrowskis angegriffener Gesundheit und steigender Arbeitslast geschuldeten Nachlassen des Kontaktes, ablesbar an den verzögerten Antworten Bobrowskis und dem Aussparen von Persönlichem. Im Wechsel der Briefe sticht die poetologische Bedeutung des bislang wenig beachteten Gedichtes "Nachtfischer", das Bobrowski unmittelbar nach der nächtlichen Niederschrift an Hamburger schickte, für die späte Lyrik Bobrowskis hervor. Hamburgers Bitte um Verständnishilfe kam Bobrowski nach, indem er darauf hinweist, dass das Gedicht nicht von Natur, sondern von "der Vergeblichkeit im Umgang mit allem Lebendigen" handelt. Wie früher schon in der kurzen Korrespondenz mit Paul Celan fällt auch in diesen Briefen ein Bedürfnis Bobrowskis auf, in einem Gestus devoter Besitzergreifung die Bedeutung des Briefkontaktes für sich zu definieren: "Aber so sind Sie mir ja überhaupt: einer, den ich alles fragen und dem ich alles sagen kann."

Ein unbedingter Vorzug dieses umfangreichsten der bislang veröffentlichten Briefwechsels Bobrowskis ist sein dezidierter Blick nach Westen, der die dominierende osteuropäische Bobrowski-Perspektive ergänzt. So können die aus den Briefen erkennbar werdenden gemeinsamen Anstrengungen des Übersetzers Matthew Mead und der zunächst skeptischen Gutachter Hamburger und Christopher Middleton um eine englische Ausgabe von Bobrowskis Gedichten, die 1966 unter dem Titel "Shadow Land" erscheint, erklären helfen, weshalb Bobrowski im Englischen früher und nachhaltiger als in anderen Sprachen rezipiert worden ist. Dazu trugen auch Hamburgers anonyme Rezensionen über Bobrowski in "The Times Literary Supplement" bei, die auch in der zeitgenössischen Literaturkritik der DDR zitiert wurden. Die englische Germanistik hat auch späterhin einen wesentlichen Anteil an der Beschäftigung mit Bobrowski. Eine gründliche aktuelle Gesamtdarstellung zu Leben und Werk wie John P. Wieczoreks "Between Sarmatia and Socialism" sucht man im deutschen Sprachraum vergebens.

Abgerundet wird das Bändchen durch einen kurzen Essay Ingo Schulzes, eines der wenigen Autoren, die gegenwärtig auf Bobrowski verweisen. Schulze erspart dem Leser ein Referat bobrowskispezifischer Allgemeinplätze und rückt statt dessen Hamburger, der nicht zuletzt wegen seiner Hölderlin-Übersetzungen zu den wichtigsten Mittlern deutschsprachiger Literatur in Großbritannien gehört, in den Vordergrund. Er tut dies zum einen durch die Beschreibung einer von Hamburger im Herbst 2002 unternommenen Suche nach einem Kindheitsort am Berliner Wannsee, bei der dieser unter Anwohnern auf eine umstandslose Identifikation mit eben jener Zeit stieß, die ihn zum Verlassen von Heimat und Muttersprache gezwungen hat. Zum anderen zeigt Schulze an Hamburgers Bobrowski-Gedichten, dass dieser sich in Bobrowskis Erfahrung von Heimatverlust mit seiner eigenen Fluchterfahrung wiederfinden konnte. Es gehört zu den Besonderheiten dieser Freundschaft, dass die - in den Briefen an keiner Stelle angesprochene - Vergangenheit des ehemaligen Wehrmachtsoldaten aus Ostpreußen und die Vergangenheit des aus dem nationalsozialistischen Berlin geflohenen jüdischen Deutschen nicht trennend, sondern verbindend gewirkt hat. Einmal mehr lässt der vorliegende Briefband die seit Jahren von unüberwindlichen Kleinlichkeiten in der Schublade zurückgehaltene Edition des gesamten wesentlichen Briefkonvoluts Bobrowskis wünschen.

Titelbild

Johannes Bobrowski / Michael Hamburger: "Jedes Gedicht ist das letzte". Briefwechsel.
Herausgegeben von Jochen Meyer. Mit einem Nachwort von Ingo Schulze.
Schiller-Nationalmuseum Deutsches Literaturarchiv, Marbach am Neckar 2004.
178 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-10: 3937384030

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