Der Baum ist der Wahnsinn

Hans-Martin Zöllner überzeichnet den Baumtest

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller und Sarah SchenkRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sarah Schenk

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Chronische Schizophrenie? Manisch-depressive Erkrankung? Oder doch eine ausgewachsene Paranoia? Im lustigen Diagnose-Karussell von Hans-Martin Zöllner bedeutet jede neue Runde eine neue Wahnsinnsfahrt. In seinem Buch "Die Baumzeichnung als Spiegel der leidenden Seele" will der Schweizer Psychologe und Mitarbeiter an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich ein Diagnoseinstrument rehabilitieren, für das die akademische Psychologie allenfalls ein müdes Lächeln übrig hat: den "Baumtest".

Für die Anhänger des Baumtests gibt es keine bloß ästhetische Baumzeichnung. Sie ist ein projektives Verfahren, das als bildhafter Selbstausdruck des Patienten verstanden werden kann und Auskunft gibt über das bewusste und unbewusste Selbstbild der zeichnenden Person. Jedoch, so warnt Zöllner einleitend, könne der Baumtest nicht als alleiniges diagnostisches Mittel eingesetzt werden. Er bedürfe der Gegenkontrolle durch andere Tests; auch den Probanden selbst müsse man beobachten. Genauso irreführend wie die Blinddiagnostik könnten sich Deutungen anhand von psychometrischen Kennzahlen (z. B. Neigungswinkel des Stammes) erweisen. Wer das Instrument des Baumtests mit Gewinn einsetzen will, müsse nicht nur hunderte, sondern am besten tausende von Baumzeichnungen gesehen haben.

Doch Zöllners Auswertung der über 400 abgebildeten Zeichnungen macht diese Einschränkungen sogleich wieder zunichte. In den Bildbeschreibungen ist die klinische Diagnose häufig schon antizipiert; die Analysen bewegen sich von vornherein auf dem Terrain des Pathologischen und Kranken. So entsteht der Eindruck einer eindeutigen, fast mechanischen Zuordnung von Bild und Krankheitsbild - für den Betrachter nicht immer nachvollziehbar. Dass Zöllner ein Wissen über den Patienten besitzt, das nicht allein aus der Interpretation der Baumzeichnung stammen kann, ist ihm nicht vorzuwerfen. Im Gegenteil: Informationen, die aus anderen Quellen stammen, können helfen, die Auswertung der Baumzeichnung sensibler zu steuern. Ein Problem hingegen ist, dass Zöllner dieses Wissen nicht transparent macht und die Baumzeichnung in "Alleinstellung" vorführt. So muss sie entgegen seinen Absichten zwangsläufig als diagnostischer Budenzauber erscheinen.

Ist erst alle Vorsicht dahin, lässt sich die Analyse schon mal in flotten Bullet-Points abhandeln. So verweisen "krakenartige, unnatürliche Äste" geradewegs auf psychotisch-inflative Ängste, "gepackt" zu werden; der gespaltene Stamm auf die zerrissene Persönlichkeit des Zeichners; die erkaltete, lampionartig am Himmel aufgehängte Sonne auf Affektverflachung und Gemütserkaltung. Und wie könnte Zöllner einen "wuchtige[n], bolzengerade[n] Stamm, disproportional zur Krone" als "ostentative Demonstration von Stärke und Gesundheit, an der in Wirklichkeit nicht viel dran ist" deuten, wenn er nicht andere intime Einblicke hätte in eben diese Wirklichkeit?

Regelrechte Ausrutscher unterlaufen Zöllner zum Beispiel mit Blick auf Cornelia, ein bedauernswertes, "leicht debil(es)" Wesen: "Der Baum zeigt einen völligen Zerfall der psychisch-geistigen Funktionen [...]. Alles ist rudimentär, unverbunden, ohne Leben und Farbe: das Skelett eines Baumes, nicht dieser selbst. Arme Cornelia!" Emphatische Mitleidsbekundungen gegenüber Patienten tragen zum Imagegewinn der Baumdeutung genauso wenig bei wie die Bemerkung, eine der Baumzeichnungen erinnere "fatal an eine Klobürste". Viel zu oft bewegen sich Zöllners Kommentare abseits aller wissenschaftlichen Standards. Die Urteile fahren Achterbahn: "Mit diesem Menschen möchte man lieber nicht zusammenkommen"; "der Baum ist der Wahnsinn"; "das ist heavy".

Der Hinweis auf weitere externe Einflussgrößen, die sich in Richtung einer verstärkten Pathologisierung der Interpretation auswirken könnten (z. B. die zeichnerische Unbeholfenheit), ändert an dem folgenschweren Selbstmissverständnis des Baumtests, dem Zöllner in diesem Buch Tür und Tor öffnet, nicht das Geringste.

Viel zu wenig erfährt man über den kreativen Prozess selbst (was wurde zuerst gemalt, was zuletzt?); die Eigeninterpretation des Patienten fällt völlig unter den Tisch. Auch die Fähigkeit des Baumtests, bei mehrstufiger Anwendung Entwicklung aufzuzeigen, wird nur am Rande erwähnt. So vergibt Zöllner die Chance, auf das viel umfassendere Potenzial der Baumzeichnung aufmerksam zu machen. Die außergewöhnliche Vielfalt an Bildbeispielen jedoch macht den Band zu einer beeindruckenden Dokumentation.

Kein Bild

Hans-Martin Zöllner: Die Baumzeichnung als Spiegel der leidenden Seele.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2004.
436 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-10: 3826027175

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