"Siehst du nun, was deine Illusionen dir einbringen?"

Zu Gert Ledigs Nachkriegsroman "Faustrecht"

Von Mario Alexander WeberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mario Alexander Weber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Rückblende: Im Zeitraum 1999-2001 wurden drei vergessene, aus den fünfziger Jahren stammende Romane des Autors Gert Ledig wiederveröffentlicht, in dieser Reihenfolge: "Vergeltung", "Die Stalinorgel" und "Faustrecht".

"Vergeltung" schildert einen alliierten Luftangriff auf eine namenlos bleibende deutsche Stadt im Jahr 1944. Die Geschehnisse sind komprimiert auf einen Zeitraum von siebzig Minuten. "Die Stalinorgel" schildert einen zweitägigen Kampf um eine Höhe in der Schlacht um Leningrad 1942 "als puren Wahnsinn, als absurdes Horrorspektakel: ein radikales Buch, wie es in der deutschen Nachkriegsliteratur ohne Beispiel ist" (Volker Hage). "Faustrecht" schließlich spielt in der unmittelbaren Nachkriegszeit in München im November 1945.

Gert Ledig schrieb diese drei Bücher Mitte der fünfziger Jahre. Sein Debütroman "Die Stalinorgel" war damals ein großer Erfolg, der von der Kritik gelobt, in vierzehn Sprachen übersetzt wurde und ihm den Eintritt in die "Gruppe 47" ermöglichte. Der Nachfolgeroman "Vergeltung" war ein kommerzieller Flop und von den Kritikern zerrissen. Sein dritter und letzter Roman "Faustrecht" fand schon keine rechte Beachtung mehr. Ledig verabschiedete sich enttäuscht vom Literaturbetrieb und geriet in Vergessenheit. Er starb im Frühsommer 1999, den Furor und den Enthusiasmus, den die Wiederveröffentlichung von "Vergeltung" im Bücherherbst desselben Jahres auslöste, hat er nicht mehr erlebt. Ein Jahr darauf erschien - wieder im Suhrkamp Verlag - "Die Stalinorgel". Andreas Kilb schrieb aus diesem Anlass in einer Besprechung in der "FAZ":

"Inzwischen ist Gert Ledig wieder so bekannt, wie er es vor dem Erscheinen von 'Vergeltung' im Herbst 1956 war. Doch die Blickrichtung hat sich umgekehrt. Damals las man das Luftkriegsbuch als Fortsetzung der 'Stalinorgel'. Heute erscheint 'Die Stalinorgel' nur noch als Vorläufer von 'Vergeltung'."

2001 erschien dann, eher der Vollständigkeit halber und diesmal nicht bei Suhrkamp, sondern bei Piper, das letzte Buch von Ledig, "Faustrecht". Die vom Autor nie als solche beabsichtigte Trilogie war damit wiederveröffentlicht und abgeschlossen, und wie vor vierzig Jahren war die Resonanz auf "Faustrecht" eher gering.

Die neue Gewichtung des Romans "Vergeltung" verdankte sich indirekt einer Debatte über "Luftkrieg und Literatur", die 1997/98 von dem Schriftsteller W. G. Sebald im Rahmen einer Vorlesung an der Zürcher Universität angestoßen wurde. Sebald wies auf einen scheinbar blinden Fleck in der deutschen Nachkriegsliteratur hin: den Luftkrieg über Deutschland und dessen literarische Nicht-Thematisierung. Als eine Art Gegenthese erschien aufgrund der Recherchen von Volker Hage dann "Vergeltung", was dazu führte, dass Sebald in der bei Hanser erschienenen Buchfassung seiner Vorlesung jetzt auch auf Ledig einging, wenn auch ob der literarischen Qualität des Romans eher zweifelnd: "Manches in ihm ist aufgefaßt mit erstaunlicher Präzision, manches wirkt unbeholfen und überdreht." Volker Hage, mittlerweile einer der Experten auf dem Gebiet "Luftkrieg und Literatur", veröffentlichte 2003 bei S. Fischer den lesenswerten Band "Zeugen der Zerstörung. Die Literaten und der Luftkrieg", in dem neben klugen Analysen die zweite Hälfte des Buches interessante Gespräche mit literarischen Zeitzeugen - darunter auch Sebald - ausmachen. Sebald antwortete im Interview auf die Frage, ob er Ledigs Buch mittlerweile gelesen habe:

"Ja. Es ist ein sehr brisanter Text, es ist eine Art der Denunziation des deutschen Kollektivs in jener Zeit. Es hat mich daher nicht gewundert, dass der Roman aus der sich neu konstituierenden Kultur jener Zeit eliminiert, ausgeschieden werden musste."

Im Jahr 2002 erschien das Sachbuch "Der Brand" von Jörg Friedrich, das die Debatte über den Luftkrieg aus dem eher überschaubaren Literaturmilieu in die breite Öffentlichkeit führte. Die Diskussion darüber dauert bis heute an, Tiefpunkt war die kalkulierte Entgleisung des sächsischen NPD-Abgeordneten Gansel, der im Landtag anlässlich des 60. Jahrestags der Bombardierung Dresdens von "Bomben-Holocaust" sprach.

Obwohl die Wiederveröffentlichung von "Vergeltung" - für Volker Hage "eines der raren Meisterwerke der mit dem Luftkrieg befaßten Literatur" - gerade einmal knapp sechs Jahre zurückliegt und das Buch - neben der "Stalinorgel" - mittlerweile in den überarbeiteten Kanon der deutschen Nachkriegsliteratur aufgenommen worden zu sein scheint, droht in der riesigen Flut an Neuerscheinungen, Neuentdeckungen und Ausgrabungen Ledigs Werk schon wieder vergessen zu werden. Mit Sicherheit trifft dies auf "Faustrecht" zu, welches schon bei der Wiederveröffentlichung in der Kritikergewichtung deutlich schlechter als die beiden anderen Bücher Ledigs abschnitt.

Im Roman, der im Spätherbst 1945 spielt, "dampft der Zeitgeist von 1957", konstatierte Peter Roos in einer spöttischen Kritik in der "FAZ". Die gebrochenen Romanhelden würden "von Kuss bis Koitus das Klima der fünfziger Jahre" atmen. Auch wohlwollendere, sachlichere Stimmen merkten an, dass Ledig mit seinem dritten und letzten veröffentlichten Roman das Niveau seiner Vorgänger nicht halten konnte. Für Rainer Moritz ist der Roman "ein rechtschaffenes Zeugnis aus furchtbarer Zeit, nicht mehr, nicht weniger." ("NZZ") Für Volker Hage gehören jedoch alle drei Roman Ledigs "untergründig zusammen", sie seien "eine Art Dreiklang von Stalinorgel, Luftschutzsirene und Stille - jener der Trümmerwelt."

"Faustrecht" erzählt in schnoddrig-lapidarem, von Dialogen geprägtem Stil (Ledig wollte ursprünglich den Stoff als Theaterstück umsetzen) vom missglückten Überfall dreier ehemaliger deutscher Soldaten auf einen US-Jeep. Das Geschehen spielt sich im Spätherbst 1945 in München innerhalb weniger Tage ab.

Robert, der Ich-Erzähler, haust zusammen mit seinem Kumpel Edel Noth, der im Krieg seine Zähne verlor, in einer leer stehenden Wohnung. Befreundet sind sie mit den jungen Prostituierten Olga und Katt. Olga, von der es knapp heißt: "Ihre Illusionen waren ihr während des Krieges abhanden gekommen", kocht für die beiden, führt den Haushalt - und ganz langsam bahnt sich eine Beziehung zwischen ihr und Robert an. Robert und Edel haben sich mittlerweile von ihrem alten Kumpel, dem skrupellosen Kleinganoven Hai, überreden lassen, einen Lastwagen (die Beute: Zigaretten für den Schwarzmarkt) zu überfallen. Der Coup geht schief, die drei können flüchten, doch Edel bekommt einen Schuss in die Wade ab. Sie ziehen sich in die Wohnung zurück, halten dort Katt und Olga, die durch ihre Kontakte zur US-Armee als Mitwisserinnen eine Gefahr darstellen, fest. Gezwungen, die weiteren Geschehnisse abzuwarten, sind die fünf in der Wohnung eingesperrt, aneinander gekettet und sich auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. In diesem zweiten Teil zeigt sich deutlich die beabsichtigte Theaterkonzeption Ledigs: Ein Kammerspiel, hin- und herpendelnd zwischen gegenseitigem Misstrauen, Schuldvorwürfen, am Krieg geerdeter Männerfreundschaft und verschämter Liebe. Olga und Robert verloben sich, Hai versucht halbherzig durch einen aufgedrehten Gashahn nachts seine Mitverschwörer zu ermorden, Edel stirbt schließlich am Wundstarrkrampf, da es nicht gelang, notwendiges Tetanus zu beschaffen. Während Robert und Hai im Hinterhof Edel beerdigen, taucht der US-Offizier Davis auf, ein Freier Olgas. Er will Olga heiraten, die Papiere hat er bereits besorgt. "Das ist die Chance meines Lebens", sagt Olga und geht mit ihm mit. "Siehst du nun, was deine Illusionen dir einbringen?", fragt Hai Robert, der - jetzt wieder allein - in eine ungewisse Zukunft geht. Nicht ganz ohne Hoffnung, der letzte Satz lautet: "Der Schnee glitzerte, und vor mir leuchtete ein erstes Licht."

Dass "Faustrecht" nicht die Radikalität und Wucht seiner Vorgänger hat, liegt weniger am Autor selbst, als schlicht und einfach am auf den ersten Blick unspektakuläreren, von etlichen kanonisierten Autoren bereits dargestellten und damit genügend bekannten Thema Nachkriegszeit. Die einfache Handlung und der lapidare Dialogstil dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass "Faustrecht" ein widersprüchlicher Roman mit widersprüchlichen Protagonisten ist. Ohne zu psychologisieren - hier setzt er wieder ein Mittel der beiden Vorgängerromane ein - gelingt es dem Autor, anhand von Details und Nebensträngen ein ambivalentes Bild seiner Protagonisten zu entwerfen.

Robert und Edel sind einerseits unsympathische Figuren, die sich auf kriminelle Handlungen einlassen. Mit keinem Wort thematisieren sie, dass bei dem Überfall US-Soldaten ums Leben kommen könnten. Aus ihrer Sicht herrscht hier noch immer Krieg, sie sind die deutschen Wehrmachtsoldaten, die den amerikanischen Besatzern gegenüberstehen. Hai bringt es auf den Punkt: "Uns ist jahrelang befohlen worden, immer jemanden zu töten. Mir fiel es zum Schluß gar nicht mehr auf." Auf der anderen Seite sind Edel - nomen est omen - und Robert vorbildliche Menschen, die, provokant formuliert, den Pfadfinderspruch "Jeden Tag eine gute Tat" über die Kriegszeit hinweggerettet haben und dies im grauen Nachkriegsdeutschland jetzt umzusetzen versuchen. Trotz zynischer, scheinbar desillusionierter Sprüche und trotz des Gefühls, einer "verlorenen Generation" anzugehören, handeln die Protagonisten im Alltag konträr.

So organisiert Hai für Edel einen Zahnarztbesuch. Als Edel und Robert, der seinen Freund solidarisch begleitet, beim Zahnarzt eintreffen, ist das Wartezimmer voll, ein kleiner Junge schluchzt vor sich hin, doch Edel wird aufgrund der vorab geleisteten Bezahlung sofort vorgelassen.

"Der Arzt wandte sich an die Leute. 'Es tut mir leid, der Herr ist angemeldet.' Alle Gesichter blickten auf. Ich gab Edel einen sanften Stoß. 'Nehmen Sie bitte erst das Kind dran', sagte Edel. 'Der Kleine hat Schmerzen.'"

In einer weiteren Episode verjagen Robert und Edel einen Soldaten, der das Leid ihrer Nachbarin Frau Wotjek, die vergebens auf ihren in Russland gefallenen Sohn wartet, auszunützen versucht, indem er vorgibt, dass ihr Sohn noch leben würde. Zwar heißt es an anderer Stelle über dieses Schicksal: "Etwas Langweiligeres als die Geschichte von jemanden, der aus den Welikaja-Sümpfen nicht zurückgekehrt war, gab es nicht", doch hindert dies die Hauptfiguren nicht daran, zugunsten Frau Wotjeks einzuschreiten.

Einmal wirft Edel einem Krüppel ohne Beine, der sich auf einer rollenden Pritsche fortbewegt, Zigaretten zu. Und ein anderes Mal kümmern sich Edel und Robert um den sturzbetrunkenen US-Offizier Davis, sie schleppen ihn in der Kälte und Nässe der Nacht in einen Lastwagen.

"'Schade', sagte Edel, 'daß uns jetzt keiner sieht. Samariterdienst für unsere Feinde.'
'Bildest du dir etwas darauf ein?', fragte ich.
'Ja, da bilde ich mir was darauf ein', sagte Edel."

Es ist kein Zufall, dass der verhinderte Maler Edel, der zum Katholizismus übertreten möchte und als Einziger der drei ernsthafte Bedenken gegen den Überfall äußert, derjenige ist, der diese Aktion mit dem Leben bezahlen muss. Edel ist die körperlich und seelisch gebrochene Figur, ein suchender, sensibler Künstlertyp, vielleicht vergleichbar mit dem Kriegsheimkehrer Beckmann in Borcherts "Draußen vor der Tür", für die in der Nachkriegszeit tatsächlich kaum mehr Hoffnung existiert. Allen Protagonisten im Roman ist gemeinsam, dass sie nach ihrer Rückkehr nirgendwo eingebunden sind: in keine Partei, keine Kirche, keine Familie. Beiläufig erfährt man von Edels ohne Ergebnis gebliebener Suchanfrage nach seinen Eltern an das Rote Kreuz. Und nicht umsonst nennt Edel eines seiner Bilder "Vergitterte Zukunft". Zwar ist dies von der Literaturkritik als eine zu oberflächliche Symbolik kritisiert worden, doch wurde ein heimliches und überraschendes Hauptmotiv, das sich mit Edel verbindet, übersehen: dessen fehlende Zähne. Der Umstand, dass Edel im Krieg seine Zähne verlor, zieht sich, wie die erwähnte Zahnarzt-Episode belegt, durch den ganzen Roman. Und in der eindrücklich geschilderten Sterbeszene Edels zeigt sich Ledigs literarische Klasse. Der Wundstarrkrampf verzerrt Edels ohnehin entstelltes Gesicht noch mehr. Es scheint für die irritierten anderen, als ob der todgeweihte Edel lächeln würde. Zum letzten Mal legt sich eine - im Roman mehrmals erwähnte - Maske auf ein Gesicht. "Wenn du unbedingt lächeln mußt, dann lächle wenigstens nicht so höhnisch", meint Robert, bevor er den wahren Sachverhalt versteht. Robert spricht hier mit sich selbst und demaskiert sich.

Robert ist, wenn man den Roman als Figurentypologie der Nachkriegszeit lesen will, derjenige, dessen Motto "Es wird und muss weitergehen" lauten könnte. Im Gegensatz zu Hai, der unsentimental, im Jetzt lebend und auf seinen eigenen Vorteil bedacht die Wirren der Nachkriegszeit für sich auszunützen versucht, ein Schwarzmarktexperte und anpassungsfähiges Chamäleon ist (oder eben der Haifisch, der Zähne hat), glaubt Robert an eine Zukunft. Das von Ledig in seinen vorangegangenen Romanen geschilderte Grauen des Krieges darf, obwohl es Robert in seinen Träumen einholt, nicht zählen. In einer der dunkelsten und besten Passagen des Romans versucht Robert, in einer Apotheke Medikamente für den verwundeten Edel zu besorgen. Der alte Apotheker, ein Veteran des Ersten Weltkriegs, der hofft, dass sein Sohn noch aus Russland zurückkehrt, wird von Robert unter Druck gesetzt. "Sie hassen noch?", fragt er ihn. Robert windet sich, liefert flapsige Sprüche, antwortet nicht. Von Olga später befragt, entgegnet er nur, dass der Apotheker "verrückt" gewesen sei. Robert möchte einen Schlussstrich ziehen, und ungeachtet seiner enttäuschten Liebe zu Olga oder des Todes seines Freunds Edel: Am Ende des Weges leuchtet ein Licht. Es gibt eine Zukunft.

Diese bitteren Pointen im Geist der fünfziger Jahre zu verorten, fügt dem Roman und seinem Autor Unrecht zu. Das Erstaunliche an Ledigs Trilogie - gleichberechtigt in allen drei Teilen - ist ja, dass sie dem Zeitgeist der fünfziger Jahre gegenübersteht und erst heute, nicht nur literarisch, gewürdigt werden kann.

Volker Hages Einschätzung, dass Ledigs dritter Roman "Faustrecht" im Dreiklang die Stille "jenseits der Trümmer" ausmache, muss ebenfalls widersprochen werden. Das Gegenteil ist der Fall. "Stalinorgel" und "Vergeltung" beschreiben als literarische Dokumente angesichts des größten Lärms die Stille. Wenn danach die Waffen schweigen, wird endlos gesprochen. Dass diesen Reden Taten folgten, zeigt die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Dass dieses Reden die Stille übertönen wollte, zeigt Gert Ledigs letzter Roman.

Kein Bild

Winfried G. Sebald: Luftkrieg und Literatur.
Carl Hanser Verlag, München 1999.
184 Seiten, 17,40 EUR.
ISBN-10: 3446196617

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Titelbild

Volker Hage: Propheten im eigenen Land. Auf der Suche nach der deutschen Literatur.
dtv Verlag, München 1999.
400 Seiten, 12,70 EUR.
ISBN-10: 3423126922

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Titelbild

Gert Ledig: Die Stalinorgel. Roman.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
228 Seiten, 14,80 EUR.
ISBN-10: 351822333X

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Titelbild

Gert Ledig: Faustrecht. Roman.
Piper Verlag, München 2001.
230 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-10: 3492043232

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Titelbild

Gert Ledig: Vergeltung. Roman.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
210 Seiten, 8,50 EUR.
ISBN-10: 3518397419

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