Große Gesten

Ein Sammelband entdeckt die Affektenlehre in der Musik der Frühen Neuzeit wieder

Von Corinna HerrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Corinna Herr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Relevanz der Affektenlehre für die Musik des 17. und 18. Jahrhunderts ist in der Musikwissenschaft kein Novum, aber die interdisziplinären Implikationen dieses Themas von Ausdrucksfindung und -umsetzung qua Musik (und Sprache) werden bisher kaum gesehen. Das mag daran liegen, dass die Umsetzung von kulturwissenschaftlichen Ansätzen im Fach Musikwissenschaft - bis auf wenige Ausnahmen - noch weitgehend brachliegt. Die Frage nach der Wirkungsverbindung so verschiedener Zeichensysteme wie Musik, Sprache und Gestik kann jedoch nur mit einem umfassenden Gerüst, wie es die Kulturwissenschaften bieten, erforscht werden.

Der vorliegende Konferenzbericht der XXVIII. internationalen wissenschaftlichen Arbeitstagung des Klosters Michaelstein vom 19.-21. Mai 2000 verbindet zumindest zwei der genannten Aspekte: Gestik und Affekt. Sprache und Musik sind hier implizit als Affektauslöser mitgedacht. Das Thema des Buches ist somit - mit Blick auf die beschriebene Forschungslage - sehr erfreulich. Wenn der Herausgeber in der Einleitung bei der Frage des Einsatzes von Gestik zur Verdeutlichung des Affekts auch "in den letzten Jahren" einen großen "Wissenszuwachs" sieht, so besteht dieser wohl vor allem aus einer wesentlich verspäteten Rezeption des Buchs von Eisenschmidt (1940/41), das 1987 im Laaber Verlag neu herausgegeben wurde. Tatsächlich ist der vorliegende Band einer der wenigen neuen wissenschaftlichen Beiträge zur Affektenlehre. Demzufolge richten sich zu Recht große Erwartungen an das Buch.

Der Ursprung der musikalischen Affekten- und Figurenlehre aus der Rhetorik wird bereits durch die Bezeichnung "musikalisch-rhetorische Figuren" verdeutlicht. Eine Verbindung zwischen den 'alten Künsten' Musik und Rhetorik zeigt sich bereits durch deren Zugehörigkeit zu den 'septem artes liberalis'. Ziel der Rhetorik ist es, die Angesprochenen zu überzeugen ("persuasio"), und zwar unter anderem durch die Erregung von Leidenschaften ("movere"). Während dies aber nur ein sekundäres Ziel der Rhetorik ist, hat Musik ihre Hauptintention darin, die Zuhörer zu bewegen. Sie repräsentiert mithin auch eine anti-rationale und anti-aristotelische Ebene. Das "muovere" ist der Topos, den Claudio Monteverdi in seinem musikgeschichtlich zentralen Streit des 17. Jahrhunderts mit Giovanni Maria Artusi gegen das bisher vorherrschende Ziel des "dilettare" (also das Vergnügen bereiten) setzt. Im Bereich der musikalischen Gattung der Monodie, des begleiteten Sologesangs, aus dem sich um 1700 auch das Musiktheater entwickelt, werden so auch theoretische Grundlagen zu einer umfassenden Kommunikationsstruktur durch die Verbindung von Musik und Sprache auf der Basis der Affektenlehre gelegt. Hierbei spielt auch die Antikenrezeption eine wichtige Rolle, denn die Monodie wurde mit dem Anspruch entwickelt, das Theater der griechischen Antike und die dort entsprechend funktionierende Kommunikationsstruktur - so sahen es zumindest die zeitgenössischen Musiktheoretiker - wieder aufleben zu lassen. Mithin spielt auch die musikalische Nachahmungsästhetik in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Das Konzept der Mimesis mit der Grundidee der Nachahmung der Natur durch die Kunst ist der ideengeschichtliche Hintergrund aller Künste der Frühen Neuzeit. Interessant sind aber die individuellen Ausprägungen, Grenzziehungen und Überschreitungen von Grenzen sowie die - durchaus verschiedenen - Definitionen von 'Natur' und 'Kunst'.

Während die Funktion der Sprache in Rhetorik und Literatur der Frühen Neuzeit (hier insbesondere im barocken Trauerspiel, das in Deutschland vornehmlich durch Gryphius und Lohenstein repräsentiert wird) die semantische und syntaktische Affekterregung und -beherrschung ist, haben sich zu diesem Zweck in der Musik figurative Wendungen, zumeist melodischer Natur, entwickelt. Der Einsatz musiktheoretisch genau festgelegter musikalisch-rhetorischer Figuren zur Darstellung des Affekts wird im Verlauf des 18. Jahrhunderts durch die Konzentration auf die beiden großen Affektgruppen, die zeitgenössisch mit "Lust" und "Unlust", bzw. "voluptas" und "taedium" bezeichnet werden, abgelöst. Diese Entwicklung wird allerdings im vorliegenden Band nicht behandelt, noch wird in die, oben nur kurz angerissene, Geschichte der Affektenlehre eingeführt - was eigentlich zumindest Aufgabe des Herausgebers dieses Tagungsbandes gewesen wäre.

Allerdings zeigt Hartmut Krones in einem grundlegenden Beitrag auf überzeugende Weise die Verbindung von Affekt, Gestik und Rhetorik bei Aristoteles sowie die Vermittlung dieses Diskurses in der Frühen Neuzeit insbesondere durch Marin Mersenne. Krones schafft virtuos den Sprung über eineinhalb Jahrhunderte und zeigt, wie gerade die Verbindung von Gestik und Affekt in der Musik sich nicht allein in der sängerischen Darstellung im 18. Jahrhundert, sondern auch in einer kompositorischen Grundhaltung dieser Zeit - bis zu Mozart - ausprägt.

Dem Thema Affektverdeutlichung auf der Theaterbühne widmet sich der Beitrag Margit Leglers und des Barockspezialisten Reinhold Kubik. Der Vortrag, der auf der Tagung offenbar mit praktischen Demonstrationen verbunden war, gibt auch in der Schriftform wichtige Hinweise zu Grundlagen der barocken Aufführungspraxis, der eine breitere Rezeption zu wünschen wäre. Leider beschränkt sich jedoch die so genannte historische Aufführungspraxis derzeit häufig auf das - natürlich an sich bereits wünschenswerte - Musizieren mit historischen Instrumenten.

Mit seinem Ansatz zwischen Musikwissenschaft und Kommunikationstheorie, der auch die (Musik-)Psychologie einbezieht, präsentiert Jobst Fricke, wie gut das von ihm propagierte Konzept einer "systemischen Musikwissenschaft", das auf interdisziplinäre und grundlegende wahrnehmungstheoretische Fragestellungen abzielt, für das vorliegende Thema geeignet ist. Fricke behandelt die Verbindung von Gestik und Affekt am Beispiel des Dirigierens. Im Beitrag fehlen allerdings die - in anderen Beiträgen zum Teil angesprochenen - historischen Vorstellungen der gestischen Kommunikationsform. Der Bereich des Dirigierens scheint hier etwas unglücklich gewählt, da dessen spezifische Ausprägung von Kommunikation, die mit der Konzentration auf die Figur des Dirigenten und dessen Verehrung einhergeht, erst zum Ende des 18. und vor allem im 19. Jahrhundert interessant wird. Bezeichnenderweise wählt Fricke hier auch Analysebeispiele, die sich mit Mozart und Beethoven beschäftigen.

Der Bereich der Mimesis wird im vorliegenden Band durch den - leider nur eine knappe Übersicht bietenden und vielfach in 'name dropping' sich erschöpfenden - Beitrag von Dieter Gutknecht aufbereitet. Die Schrift des Abbé Batteux ("Les beaux arts") wird im Kontext der Nachahmungsästhetik referiert, jedoch offenbar nur, um als Folie für Gutknechts Darstellung eines - von ihm geradezu monolinear gesehenen - Übergangs von der Nachahmungs- zur Genieästhetik zu dienen. Dieser Übergang ist allerdings für die Affektenlehre in der Musik des 17. und des 18. Jahrhunderts nicht konstitutiv, sondern wird - wie Gutknecht auch selbst betont - in der Musik erst durch Matthesons Rezeption der Mimesis, Mitte des 18. Jahrhunderts, relevant. Gutknecht scheint vor allem bemüht, Mattheson als einen "der ersten" zu benennen, der "den Geniegedanken in dieser Ausprägung im deutschen Raum" festlegt. Er stellt so einen originären Protagonisten der Musiktheorie in einen breiteren Zusammenhang, was durchaus auch positiv zu sehen ist.

In weiteren Beiträgen werden Tanz, Bühnenkostüm und Gesangstraktate (am Beispiel von Bérard) auf ihre (eindeutige) Relevanz für das Thema befragt. Regionale Ausprägungen des Bandthemas sind durch Beiträge über Affekte in der spanischen Musik, Ausdruck und Affektkontrolle bei Hasse (mit überzeugenden Analysebeispielen), John Bulwers Traktat und die Gestik in England und Frankreich sowie Gestik und Affekt in der römischen Vielchörigkeit vertreten. Innerhalb der insgesamt fundierten Beiträge fällt Klaus Abromeits Aufsatz zur Affektgestaltung im Tanz negativ auf. Nicht nur die Kürze des Beitrags (dreieinhalb Seiten), auch die Kursorik, mit der das Thema behandelt wird, bestätigen den Beitrag als "Streiflicht", wie im Titel angedeutet. Es ist schade und ein Makel des gesamten Bandes, dass dieses für den Diskurs ganz grundlegende Thema derartig beiläufig abgehandelt wird. Karin Zauft dagegen zeigt in ihrem Beitrag über die wichtige Schrift des Paters Franciscus Lang ("Dissertatio de actione scenica"), deren "Bedeutung als Quelle für tiefgreifende kunstästhetische Anschauungen jener Zeit". Diese Bedeutung geht deutlich über die von Eisenschmidt in seiner Arbeit von 1940 gezeigten Bezüge hinaus. Wilhelm Seidel zeigt spannend und nachvollziehbar, wie auch eine zunächst semantischer Deutung enthobene musikalische Figur, die Kadenz, in entsprechender musikdramatischer Kontextualisierung wichtige außermusikalische Bedeutung erlangen kann. Seidel präsentiert die Kadenz als Figur ihrer selbst, als Symbol und als Versinnbildlichung eines Gestus, hier am Beispiel des in Bachs "Johannes-Passion" sein Haupt neigenden Jesus.

Das Thema des vorliegenden Bandes, das einen der grundlegenden ästhetischen Diskurse der Zeit umfasst, kann eigentlich nur von einem umfassend und interdisziplinär agierenden kulturwissenschaftlichen Ansatz adäquat dargestellt und analysiert werden. Leider ist dies im vorliegenden Band nur in Ansätzen gelungen. Interdisziplinäre Ansätze finden sich allein bei Krones, Gutknecht und Fricke. Nur ein Beitrag aus einer anderen Disziplin wurde aufgenommen, wobei dessen Thema, das Bühnenkostüm, durchaus als zur (Musik-)Theaterwissenschaft gehörig angesehen werden kann. Trotz des positiv zu sehenden Ansatzes verbleibt der Band insgesamt im Additiven und schafft zur Forschung im Bereich der Affektenlehre keine wesentlichen neuen Grundlagen. Er bildet aber einen weiteren Schritt auf dem Weg zu einer breiteren Rezeption barocker Ästhetik.

Der Band ist dem Andenken des Hallenser Musikwissenschaftlers Günter Fleischhauer gewidmet, der einer der Initiatoren der Stiftung Kloster Michaelstein sowie der dem Band zugrunde liegenden Tagung war. Er verstarb 2002.

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Bert Siegmund (Hg.): Gestik und Affekt in der Musik des 17. und 18. Jahrhunderts.
Stiftung Kloster Michaelstein, Blankenburg 2003.
217 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-10: 3895121215

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