Kriegführung der Begriffe
Schiller in der Literatur zum Jubiläumsjahr
Von Dieter Borchmeyer
Besprochene Bücher / Literaturhinweise"Schiller erlebt zu Beginn des 21. Jahrhunderts, just zur Wiederkehr seines Todestages, eine Renaissance, eine Wiederkehr zur Geistesgegenwart. Seine Feuer flammt neu auf, entzündet die besten Köpfe." So Dieter Hildebrandt in seinem Buch "Die Neunte", das die "Geschichte eines musikalischen Welterfolgs" nachzeichnet, an dessen Dauerhaftigkeit Schiller und die "Feuertrunkenheit" seiner Verse "elementaren Anteil" haben. In der Tat ist der Reflexionsstand und die anregende Kraft der meisten Publikationen zum Jubiläumsjahr erstaunlich, während etwa die letzten Goethe-Jahre - 1982 und 1999 - eher Pflichtübungen häuften als Taten der Liebe und Erkenntnisbegeisterung. Schiller hingegen, der in den letzten Jahrzehnten ganz in den Schatten Goethes, Hölderlins, Kleists oder Büchners geraten war, scheint nun auf einmal selber wieder bedeutende Schatten zu werfen. Sogar zwei literarische Versuche über ihn sind zu verzeichnen: Anne Birk spiegelt in ihrer Erzählung "Carlos oder Vorgesehene Verheerungen in unseren blühenden Provinzen" Schillers letztes Jugenddrama in eine moderne Lebensbeziehung hinüber, Peter Braun versucht im Theatermonolog eines "Herrn von G. vor einem Totenschädel" mit dem grandiosen Selbstgespräch des "siebenten Kapitels" von Thomas Manns "Lotte in Weimar" zu konkurrieren.
Namentlich die beiden prominentesten Klassiker-Verlage Hanser und Insel wetteifern miteinander um die Jubiläumsgunst. Beide haben ihre Schiller-Ausgaben - der dem Insel-Verlag angegliederte "Deutsche Klassiker Verlag" eine zwölfbändige, umfassend kommentierte, Hanser die bewährte fünfbändige, nun mit anderem Herausgeberteam und gänzlich neuen Kommentaren - rechtzeitig abgeschlossen bzw. vollständig revidiert. Insel widmet seinen Almanach auf das Jahr 2005 ganz Friedrich Schiller, den verschiedenen Facetten seines Werks und seiner Wirkung sowie der Präsentation der einschlägigen Publikationen des Verlags. Gewiß sind unter den vielen Büchern, die dem einstigen "Lieblingsdichter der Nation" (so schon Schillers Freund Körner 1802) in diesem Jahr gewidmet sind, Biographien, Monographien, Aufsatzsammlungen, Werk-Ausgaben, Anthologien mehr oder weniger seriöser Art, Hörbücher (wie die mit einem vorzüglichen Booklet ausgestattete Wiederauflage des Lindtbergschen "Wallenstein" von 1960) so manche, die man entbehren könnte. War es überhaupt notwendig, daß mehr als fünf neue Biographien von sehr unterschiedlichem Niveau auf den Markt geworfen wurden? Hinzu kommt die übersichtliche, mit einer Fülle von Quellen aufwartende Chronik von Karin Wais und Rose Unterberger, die fast den Charakter einer Dokumentarbiographie hat.
Setzt man voraus, daß diese Biographien an Leserkreise von unterschiedlichem Kenntnisstand und Erkenntnisinteresse gerichtet sind, wird man nicht so hochnäsig sein, jene Frage nach ihrer Notwendigkeit ohne weiteres mit Nein zu beantworten. Der fortgeschrittene Literaturfreund wird zu Rüdiger Safranskis Biographie greifen, die mehr an philosophisch-geistesgeschichtlichen Einblicken als an den Lebensdetails des Jubilars interessiert ist: ein intellektuell hochambitioniertes Buch für die Gebildeten unter den bisherigen Schiller-Verächtern. Wer eine schwungvolle Lebensbeschreibung sucht - die in den Nacherzählungen der Werke bisweilen freilich allzu flott ausfällt (Beispiel: die Jungfrau von Orleans "will nicht unter die Haube, sie will unter den Helm") - mag sich an Jörg Aufenanger halten. Der jugendliche Leser, der es ganz schnell wissen und ständig durch hübsche Bilder und nachhelfende Informationen aufgemuntert werden will, die rechts und links den Fließtext umranken, greife zu Ehrenfried Kluckerts "Schnellkurs".
Höhere Ansprüche stellt Kurt Wölfel in seinem brillant geschriebenen "Portrait", das es verdient hätte, nicht nur in einer Taschenbuchausgabe zu erscheinen. Immer wieder gelingen Wölfel in aller Kürze glänzende, auch den Experten anregende Analysen nicht nur der Lebensstationen Schillers, sondern auch seiner Werke. Geistvoll-pfiffig charakterisiert er etwa Schillers philosophische Texte als begriffliches Kriegsmanöver: "So marschieren sie auf, bilden die Streitordnung, werden gegeneinander geführt, vollziehen ihre Schwenkungen, prallen aufeinander: die Phalanx der antagonistischen Begriffe, von den metaphorischen Hilfstruppen begleitet [...] Das Lustvolle, das sich mit dieser Kriegführung der Begriffe verbindet, ist auf eine mitreißende Weise spürbar, und die Energie, die diese Auseinandersetzung antreibt [...], macht Schillers theoretische Prosa zum Pendant seiner Dramatik."
Die bibliophilste der neuen Biographien stammt aus der Feder von Marie Haller-Nevermann: mit seiner edlen Ausstattung und vorzüglichem Bildmaterial eines der schönsten Bücher zum Schiller-Jahr. Der Altmeister der Schiller-Forschung: Walter Müller-Seidel hat dafür ein umfangreiches Nachwort geschrieben, in dem er bewegend das - sein - "Interesse an Schiller" begründet. Marie Haller-Nevermann wechselt wirkungsvoll diachronisch verfahrende Lebenserzählung mit synchronischen "Porträts", die etwa Schillers medizinisch-psychologischen Erkenntnisstand, seine Gesprächs- und Freundschaftsgenialität oder - als einziges der Bücher zum Jubiläum neben dem Insel-Almanach - ausführlich sein Verhältnis zur Musik und seinen Einfluß auf sie (Verdis Schiller-Opern) würdigt. Hinzu kommt im abschließenden Kapitel eine pointierte Wirkungsgeschichte, wie sie eingehender, aber auch ein bißchen hausbackener in einer Monographie von Monika Carbe nachgezeichnet wird.
Die Biographen haben immer wieder Probleme, das Werk Schillers in ihre Darstellung einzubringen, da es "so abgespalten wirkt von seinem Leben" (Jörg Aufenanger). Selbst die vielleicht faszinierendste Episode in Schillers Vita spiegelt sich kaum in seinem Werk: es ist die Ménage à trois mit den beiden Lengefeld-Schwestern Caroline und Charlotte - das, was Jean Paul "Simultanliebe" genannt hat, ein durchaus repräsentatives Phänomen der empfindsamen Gefühlskultur. Gleich drei Bücher zum Jubiläumsjahr widmen sich Schillers Doppelliebe: Jörg Aufenanger mit gewohntem erzählerischem Schwung, Kirsten Jüngling und Brigitte Roßbeck mit den aufwendigsten Quellenrecherchen - zudem als komplette, hin und wieder etwas sensationslüsterne Doppelbiographie der beiden Frauen -, Ursula Naumann schließlich in der feinsinnigsten und literarisch versiertesten der drei Studien, welche die "klassische Dreiecksgeschichte" in ein poetisches Bezugsfeld zwischen der mittelalterlichen Sage vom zwiefach verheirateten Grafen von Gleichen und der modernen Variation des Themas der Doppelliebe in Rousseaus "Nouvelle Héloïse" und Goethes "Stella" einordnet. Opfer dieser Beziehung wurde die unglücklich verheiratete Caroline. Schiller ist ihre große Liebe gewesen; gleichwohl hat sie die Ehe zwischen ihm und Charlotte vermittelt. Und dann mußte sie sich, als die Schwester die zarten Krallen der Ehefrau zeigte, aus der Liebesbeziehung herausgedrängt sehen, obwohl sie sich gewiß - wie die Freunde, zumal Wilhelm von Humboldt - stets für die angemessenere Partnerin Schillers gehalten hat.
Schiller ist über diese wie andere Frauengeschichten in seinem Leben hinweggekommen, ohne Schaden an seiner Seele zu nehmen. Es gab in diesem Leben einige Frauen, denen Schiller weit mehr bedeutete als sie ihm. Der berühmteste Fall ist Charlotte von Kalb, die ähnlich wie Caroline bereit gewesen wäre, ihre unglückliche Ehe zu seinen Gunsten aufzulösen. Die eindrucksvollste Schilderung der Schillerschen Frauenbeziehungen vor seiner Ehe mit Charlotte - nachdem er in den Hafen der Ehe eingelaufen war, endeten alle erotischen Turbulenzen - findet sich in Friedrich Dieckmanns grandioser Biographie des jungen Schiller. Durch seine Mozart-Studien ist er mit der geistigen Situation des späten 18. Jahrhunderts innig vertraut. Und so sind die Querverbindungen durch alle Künste und Diskurse der Zeit ein besonderer Vorzug seines Buchs. Bedauernd fragt man sich, warum er sich auf den "jungen Mann Schiller" beschränkt hat. Vielleicht ist er einfach bis zum Jubiläumsjahr mit dem Weimaraner Schiller nicht zu Rande gekommen, und wir dürfen bald auf den zweiten Teil dieser Biographie hoffen. Besonders hellsichtig analysiert Dieckmann Schillers erotische Affären, zumal diejenige mit der von den Biographen meist stiefmütterlich beurteilten Henriette von Arnim, die hier nun als eine junge Frau von ungewöhnlicher Liebes-Würde erscheint. Welch berückende Briefe hat sie, hat aber auch Schiller geschrieben! Wenn eines die neuen Biographien verdeutlichen, dann ist es die Tatsache, daß Schiller ein "hinreißender Briefschreiber" war, der zumal etwas entfaltet, was sich in seinen Theaterstücken seltener offenbart: "ein Witz, ein Humor, der bis zum Grotesk-Überschäumenden geht" (Dieckmann).
Thomas Mann hat in seinem "Versuch über Schiller" vom "verhältnislosen Verhältnis" Schillers zu den Frauen gesprochen. "In diesem unlyrischen Leben spielt das Erotische keine schöpferische, Epochen bildende Rolle. Es gibt darin kein Sesenheim, kein Wetzlar, keine Lida, Marianne und Ulrike." Diesen Befund bestätigt Dieckmanns Biographie. Schiller war zweifellos höchst anfällig fürs weibliche Geschlecht - "jede Kokette kann mich fesseln" schreibt er einmal an Körner -, aber sein Verhältnis zu den Frauen drang nicht "in die Tiefe seiner Existenz", blieb "lyrisch weitgehend unproduktiv", was Dieckmann auf eine "homophile Schwebung" hinzudeuten scheint, die schon Thomas Mann vermutet hat. Die große Passion seines Lebens, so Thomas Mann, war eben eine "Angelegenheit zwischen Mann und Mann": die zwischen "leidenschaftlicher Anziehung und Abstoßung" pendelnde Beziehung zu Goethe.
Zu den biographischen Detailstudien dieses Jahrs gehört eine akribische Untersuchung von Stephan Füssel über "Schiller und seine Verleger" - die publizistische Parallelaktion zu Siegfried Unselds Buch "Goethe und seine Verleger" (1991). Thomas Mann bereits hat auf die realistisch kalkulierenden publizistischen Projekte Schillers und den ausgepichten Umgang mit seinen Verlegern hingewiesen, die zeigen, daß er alles andere als ein verschwärmter Idealist war. Füssel bestätigt dieses Bild in seinem Buch, das uns einen Schiller zeigt, der ständig um die materielle Basis der erst allmählich ermöglichten, urheberrechtlich noch längst nicht abgesicherten Existenz eines freien Schriftstellers willen zu ringen hatte. Stets hing das Damoklesschwert des drohenden Brot-, d. h. Arztberufs über seinem Schreibtisch! Wir erleben in Füssels Buch Schiller mit seinen "Versorgungsüberlegungen" im Spannungsfeld der ökonomischen, politischen und kulturellen Faktoren des literarischen Markts, gewinnen überraschende Einblicke in seinen Haushalt, seine alltägliche Lebensführung, seinen Güterverbrauch bis hin zum beträchtlichen Konsum der verschiedensten Weine und Spirituosen, der allerdings hinter dem Verbrauch des Alkoholikers Goethe weit zurückstand. Ein Schiller im Gegenlicht der alltäglichen Lebensbesorgung.
Zu den biographischen Studien kommt der neue Versuch einer konzisen Gesamtdarstellung von Schillers Werken aus der Feder von Norbert Oellers, dem Herausgeber der historisch-kritischen Schiller-"Nationalsausgabe", die nach 65 Jahren in diesem Jubiläumsjahr nun zum Abschluß gelangen soll. Oellers hat seine Schiller-Studien vor acht Jahren in einem Sammelband zusammengefaßt. Das neue Buch versucht nun weniger, originelle Hypothesen aufzustellen, als eine für jeden verständliche Einführung in Schillers Gesamtwerk zu bieten, wobei es vor Elementarinformationen für den noch nicht Eingeweihten keineswegs zurückscheut. Im ersten Teil bietet auch Oellers eine knappe Biographie Schillers, ehe er sich den verschiedenen Werkkomplexen zuwendet. Keine aktualisierende, sondern eine historisierende Betrachtungsweise macht er sich dabei zu eigen, wobei ihm die Grundspannung zwischen idealistischer Freiheitsvision, die Schiller mehr und mehr in die autonome Kunstsphäre verlegt, und dem realistischen, pessimistischen Blick auf die Geschichte, die jener Vision nicht standhält, besonders wichtig ist.
Schillers Verhältnis zur Geschichte, zu Politik und Recht gehört zu den nach wie vor faszinierendsten Aspekten seines Werks. "Schiller und das Recht" - das ist ein Thema, das die Juristen von Erik Wolff bis Jutta Limbach immer wieder gereizt hat. Längst hätte es eine umfassende Gesamtdarstellung verdient. Die neue Studie des Frankfurter Juristen Klaus Lüderssen beschränkt sich auf grundsätzliche Überlegungen zum Verhältnis von Recht und Literatur sowie auf Schillers dramatisches Werk. Die rechtshistorisch besonders interessanten Prosatexte wie "Die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet", "Der Verbrecher aus verlorener Ehre" oder "Die Gesetzgebung des Lykurgus und Solon" werden leider ausgeklammert. Lüderssen, an nicht-fiktionale Texte gewohnt, fällt der Umgang mit literarischen Diskursformen nicht leicht. Entweder zitiert er ausufernd Schillers Dialoge oder er philosophiert von einem modernen rechtsphilosophischen Standpunkt aus ein wenig über sie hinweg anstatt aus ihnen heraus. So wollen Schillers Werke und ihre rechtliche Problematik nie recht in ihrem eigenen Licht und im Licht ihrer Zeit erscheinen.
Abschließend ein Blick auf die beiden berühmtesten Dichtungen Schillers überhaupt: das Lied "An die Freude" und "Das Lied von der Glocke". Beiden sind zwei ungemein informative Bücher gewidmet. Wulf Segebrecht dokumentiert und interpretiert die Wirkungsgeschichte des "meistparodierten deutschen Gedichts", eben der "Glocke", vom Gelächter der Romantiker(innen) über ihre Popularisierung zur "Schule der Nation" bis hin zur pornographischen Parodierung ("Die Sauglocke"). Dieter Hildebrandt zeichnet die atemberaubende Karriere der "Neunten Symphonie" nach, in deren Finalsatz Schiller und Beethoven als zwei Personen in der Einheit des poetisch-musikalischen Wesens zusammenklingen. Beide wären erstaunt und befremdet gewesen über die gewaltigste Wirkung, die je einem Werk von ihnen zuteil geworden ist - bis hin zu seiner musikalischen Simplifizierung als Hymne der europäischen Union, ganz zu schweigen von jenem unsäglichen "Song of Joy", der auch auf diese Europa-Hymne abgefärbt hat. Schiller hat in späteren Jahren die "Freude" für ein "durchaus fehlerhaftes", ja "schlechtes Gedicht" gehalten und über ihre ständige Vertonung gemurrt. Und Beethoven distanzierte sich vom "Mißgriff" des Vokalfinales und trug sich mit dem Gedanken, es durch einen "Instrumentalsatz ohne Singstimmen" zu ersetzen. Diese schonungslose Selbstkritik hat die weltweite Wirkung ihres Werks jedoch nicht behindern können.
Kenntnisreich und packend, wenngleich mit einem bisweilen etwas enervierenden emphatischen Überdruck bietet Hildebrandt eine literarisch-musikalische Doppel-Biographie und Resonanzgeschichte der "Neunten", zumal des Freuden-Finalsatzes, er leuchtet seine Herkunft aus der Emphase der Empfindsamkeit und des Freundschaftskultes des 18. Jahrhunderts aus, verfolgt seine Interpretationen, Legenden, Mißbräuche und Widerlegungen - von Richard Wagners Verwandlung der "Neunten" in eine Faust-Symphonie bis zu ihrer "Zurücknahme" durch Adrian Leverkühn in Thomas Manns "Doktor Faustus". Hoffentlich endgültig widerlegt er die aus dem Vormärz stammende Legende von der ursprünglichen Hymne "An die Freiheit", in der Schiller, von der Zensur gezwungen, Freiheit durch Freude ersetzt habe. Eine nicht auszurottende, wenngleich gänzlich abwegige Hypothese, die sogar im kommunistischen China zur Rechtfertigung einer Aufführung der "Neunten" diente und deren spektakulärste Folge Leonard Bernsteins Umformulierung des Chorfinales nach dem Berliner Mauerfall sein sollte.
Das Satyrspiel in der Wirkungsgeschichte der "Neunten": das Taschenformat der Compact Disc, so erfahren wir von Hildebrandt, ist nachweislich der Aufführungslänge der "Neunten" zu verdanken. Beethoven und Schiller in die Tasche gesteckt! Davor möge uns doch das Schiller-Jahr bewahren!
Anmerkung der Redaktion: Eine verkürzte Fassung dieser Sammelrezension erschien am 23. April 2005 in der "Süddeutschen Zeitung".
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