Im Dickicht der Motivgeschichte

Gerald Bär "Das Motiv des Doppelgängers als Spaltungsphantasie in der Literatur und im deutschen Stummfilm"

Von Esther KilchmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Esther Kilchmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gehört zu den Nachteilen motivgeschichtlicher Arbeiten, dass die Präsentation eines umfassenden Korpus oft wenig Platz für die Frage danach lässt, an welchen Schnittstellen ein bestimmtes Motiv auftaucht und welche diskursiven Funktionen es erfüllt. Auch in Gerald Bärs Studie "Das Motiv des Doppelgängers als Spaltungsphantasie in der Literatur und im deutschen Stummfilm" verschwindet eine eigene Positionierung des Forschungsinteresses über weite Strecken vollkommen hinter der Fülle von Material, das hier vor dem Leser ausgebreitet wird. Dabei gleicht das über sechshundert Seiten starke Werk, das in vier Teilen alle Spielarten des Doppelgängers von seinen Vorläufern in der Antike über das Auftauchen des Begriffs in Enzyklopädien um 1800 bis hin zur Gegenwart durchzudeklinieren versucht, einer Wunderkammer, in der alles irgendwo zu finden ist: "Doppelgängervorstellungen in Spiritismus und Anthroposophie", "Verwechslungskomödie vor und nach Plautus", "Schatten, Spiegelbilder, Außerirdische, Vampire und Clones". So die Überschriften einiger Kapitel, deren analytische Verklammerung untereinander viel zu schwach ist und deren Inhalt sich oft in einer Zusammenstellung kommentierter Zitate erschöpft. Aus allem spricht ein zwar verständlicher, Lesbarkeit wie Wissenschaftlichkeit aber kaum zuträglicher Drang, nichts von dem einmal angesammelten Material wieder aufzugeben. Da helfen letztlich auch die eingerückten stichwortartigen Thesen und die tabellarischen Doppelgänger-Typologien, die Bär im Ringen um Überblick angelegt hat, wenig, sie unterstreichen vielmehr den Eindruck, es hier mit einer nicht zu Ende bearbeiteten Rohfassung zu tun zu haben.

Zumindest ein gründliches Lektorat wäre dann auch dieser Studie zu wünschen gewesen, denn wer sich die Mühe des Lesens macht, stößt zwischen der Menge der Fundstücke auch zuweilen auf eine These, die auszuführen sich gelohnt hätte. Dazu gehört jene, dass mehrsprachig aufgewachsene Autoren oder Autoren aus "sprachlich und kulturell hybriden Zonen" empfänglicher für die Doppelgängermotivik seien, aber auch Bärs Aufnahme von Friedrich Kittlers These, dass Doppelgänger am Schreibpult entstanden seien. Hier hätte man sich wenigstens den Versuch einer Erfassung des Phänomens in seiner poetologischen Dimension gewünscht. Einen Beitrag zur Forschung leistet Bär insofern es ihm gelingt, im Einbezug anderer europäischer Literaturen und Philologien, die Motivgeschichte des Doppelgängers über den deutschen Sprachraum hinaus zu öffnen. Indem die Doppelgängerproblematik in der englischsprachigen Dichtung wie der portugiesischen Literaturkritik dargelegt wird, widerlegt Bär die sich zäh haltende These von der deutsch-romantischen Spezifik des Phänomens nachhaltig.

Trotzdem wird man für eine konzise Analyse des Phänomens wohl nach wie vor auf andere neuere Untersuchungen, wie jene Webbers (Webber, Andrew J. "The Doppelgänger. Double visions in German literature". Clarendon Press, Oxford 1996), zurückgreifen. Wer aber auf der Suche nach Material für weiterführende Fragen bezüglich des Doppelgängers ist, dem ist Bärs Buch durchaus zu empfehlen; gerade was die Erweiterungen des Motivs aus der Literatur auf das Bild hin angeht, werden in Teil IV interessante Belegstellen präsentiert, darunter Buchillustrationen von Alfred Kubin und Doppel-Selbstporträts von Egon Schiele. Über das Bild gelangt Bär schließlich zum Film, wobei er entlang Todorovs These, dass der romantisch-literarische Doppelgänger nach 1900 am Ende sei, den Wanderung des Motivs von der Literatur in den Film folgt. Die Erläuterungen von Aufnahmetechniken sowie die Analyse einzelner Stummfilme - darunter "Der Student von Prag" und "Das Cabinet des Dr. Caligari" - gehören zu den stärksten Passagen des Buches. Gelingt es Bär doch darin zu zeigen, wie der Film ein "neues Paradigma des Phantastischen und damit des Doppelgängers" schafft. Der Film als jenes Medium, das mit seinen 'abgezogenen Bildern' für die Zeitgenossen zum "Doppelgänger des Lebens" wurde, scheint dabei als ein Ort auf, an dem der Doppelgänger schließlich bei sich selbst angekommen und bis heute heimisch ist. Der Ausblick auf das Vorkommen des Motivs in aktuellen Filmen schließt den Band ab und öffnet ihn zugleich auf das Aktuelle hin.

Titelbild

Gerald Bär: Das Motiv des Doppelgängers als Spaltungsphantasie in der Literatur und im deutschen Stummfilm.
Rodopi Verlag, Amsterdam 2005.
718 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 9042018747

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