Ein falsches Timing von Heftigkeiten

Ein Spaziergang mit Wilhelm Genazino durch Frankfurt

Von Ulrich RüdenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Rüdenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Frankfurt ist es an heißen Tagen immer noch ein bisschen heißer als anderswo. Ein wenig drückend, beengend und miefig. Die Glas- und Stahlfassaden der Skyscraper reflektieren das flirrende Licht. Wenn man auf dem Römerplatz steht und sich umschaut, verrät diese Stadt eine ganze Menge über ihren Charakter: Touristen und Banker aus aller Welt laufen sich hier über den Weg. Die kulissenhafte Äppelwoi-Gemütlichkeit erinnert an ein rustikales Disneyland. Der architektonische Wille zur Postmoderne zeigt sich gleich um die Ecke bei den angrenzenden Museumsbauten. Und ein seltsam biederer Muff der 50er Jahre prallt ab an den Bankentürmen, die sich als Monumente der Macht in den Himmel schrauben. So stellt man sich aus der Warte des Kleinstädters gerne Manhattan vor. Frankfurt tut so, als sei es eine Weltstadt.

Für Wilhelm Genazino, der im Frankfurter Westend wohnt, ist das der ideale Ort. Die selbst ernannte Metropole trägt den Konflikt zwischen gestern und morgen offen aus. Auch Genazinos Figuren sind in eine Zeit hineingeworfen, die nicht recht mit ihren Bewusstseinszuständen harmonieren will. Sie werden über diese Ungleichzeitigkeit zu Beobachtern und scheuen das Mittun. Das führt unweigerlich zu einem Unbehagen. Und zu einer Form der verlangsamenden Nachdenklichkeit, die etwas Beruhigendes und sogar Rührendes hat. Das Beobachten schafft Distanz. Und die Wirklichkeit wird in der eigenen Fantasie entwirklicht: So liest eine der Genazino'schen Figuren einmal auf den Trikots von Fußballspielern aus Versehen nicht "Erdgas", sondern "Edgar Degas". Der Verleser hat das Wesen einer Verzauberung, und diese wirkt in ihrer Wirklichkeitsverkennung schön und schmerzhaft zugleich. Disparates trifft unweigerlich aufeinander.

"Dieser dauernde Zusammenstoß von Großstadt und Provinz ist auf gewisse Weise anregend", sagt Wilhelm Genazino, als wir an diesem sommerlichen Maitag über den Römerberg zum Eisernen Steg und dann am Mainufer entlang spazieren. "Wenn man nachts im Flugzeug nach Frankfurt zurückkehrt und eine halbe Stunde lang über ein einziges Lichtermeer fliegt, denken die Leute: Mein Gott, was muss das für eine wahnsinnige Stadt sein! Aber was sie sehen, ist die Straßenbeleuchtung von Sprendlingen oder Hanau. Es ist eine eigenartige Täuschung. Und das ist sehr modern. Die Moderne nämlich ist ein Schwindel, und Frankfurt ist ein Fake. Das gefällt mir: Die Stadt ist unfreiwillig wieder Avantgarde."

Dem Schriftsteller, Beobachter und Spaziergänger Wilhelm Genazino kommt Frankfurt noch in anderer Hinsicht entgegen. Die Stadt "in ihrer ganzen Banalität" erlaubt ihm nämlich ein eigenes Leben. "Ich könnte nicht in einer Metropole wie Paris sein, die jeden Tag eine riesige kulturelle Verbeugung von mir erwarten würde", sagt der Büchner-Preisträger des Jahres 2004.

Das Sensationsheischende interessiert Wilhelm Genazino nicht. Er entdeckt die Menschen in ihrer absurden Alltäglichkeit, verliert sich im Besonderen des Normalen. Genazinos wunderbar leicht daher kommende Romane handeln genau davon: von den Wehmut erzeugenden Zumutungen des modernen Lebens und vom komischen Empfinden, das sich in die Traurigkeit des Alltags einschleicht und ihn erträglich macht. Seine Texte lieben die Verschwiegenheit, seine Figuren das Verborgene. Sie betrachten die Welt im Detail und leiden zugleich darunter, dass sie die entstehende Ferne zu den Dingen nicht recht überwinden können. Es sind heitere Melancholiker und optimistische Apokalyptiker. Seine Helden teilen das gesellschaftliche Bewusstsein, gerade weil sie sich als Individuen verstehen wollen. So protokolliert Genazino ganz unter der Hand auch noch einen sozialen Zustand: die Allgegenwart der Massenmedien, das Gefühl von Bedrohung, den Verlust von authentischen Erfahrungen.

Literatur hat für Genazino mit etwas Unaussprechlichem zu tun. Mit einem Schock, mit einem Trauma, das nicht benannt, nur umkreist werden kann. "Wenn der Schriftsteller Glück hat, findet er eine Form, die ihm das Fremde oder Unaussprechliche mit der Zeit vertraut macht." Seine Sprache ist dabei auf eine geniale Weise einfach, jedes Wort ist genau gesetzt, und Genazino ist in dieser kunstvollen Klarheit vielleicht am ehesten mit Robert Walser oder Italo Svevo zu vergleichen. Seine Romane und Essays erzeugen eine schwebende Balance zwischen unaufdringlicher Komik und sehnsuchtsvoller Schwere. Kurz: Er hat einen ganz eigenen, verführerischen Ton entwickelt, dem in den letzten Jahren immer mehr Leser verfallen sind.

Genazino wurde 1943 in Mannheim geboren. Seit den 70er Jahren lebt er - von einem kurzen Heidelberg-Intermezzo abgesehen - in Frankfurt. Schriftsteller wurde er, weil er sich diese Daseinsform als etwas Traumhaftes vorstellte. "Da war das Versprechen, über das Leben eine gewisse Souveränität zu gewinnen durch den Ausdruck desselben." Ein gutes Dutzend Romane, unzählige Hörspiele und hellsichtige Essays sind über die Jahre entstanden und bilden inzwischen ein einzigartiges Werk - das allerdings beinahe übersehen worden wäre.

Genazino glaubt an den Zufall. Wir sitzen, umschwirrt von Touristen und Schülergruppen, in einem Straßencafé. Genazino lehnt sich zurück, zwinkert in die Sonne. "Denen hätte vor fünf Jahren auch ein anderes Buch in die Hand fallen können", sagt er. Und meint damit die Teilnehmer des Literarischen Quartetts, allen voran Marcel Reich-Ranicki. Der hatte in der folgenreichen Fernsehsendung eingestanden, noch nichts von diesem Autor gelesen zu haben. "Ein Regenschirm für diesen Tag" aber fand der Großkritiker ganz ausgezeichnet. Plötzlich war aus der "kleinen Randanerkennnung" so etwas wie Bekanntheit geworden, und aus den lobenden Erwähnungen unter wenigen Genazino-Verehrern wurden hymnische Besprechungen in allen Feuilletons. "Ein Zufall ist das", beteuert Genazino noch einmal. Er weiß, dass es auch anders laufen kann. Vor einigen Jahren hat er im Frankfurter Literaturhaus eine Reihe veranstaltet, die vergessene Autoren vorstellte: Der Erfolg nämlich sei genauso schillernd und unglaubwürdig wie das Vergessenwerden, findet der nun Gerühmte.

Genazino, der in den 70er Jahren als Journalist bei der Zeitschrift "Pardon" gearbeitet hat, erzählt, dass er immer wieder zwei, drei Anläufe brauche, um zu einem Ziel zu gelangen. So hat er sich öfter an Theaterstücken probiert - aber erst jetzt debütiert er als Dramatiker. Im Oktober wird "Lieber Gott, mach mich blind" in Darmstadt Premiere haben.

Im Moment ist Genazino viel unterwegs, als Vorleser aus seinem neuen Roman "Die Liebesblödigkeit", der es diesmal nicht nur auf die Besten-, sondern auch auf die Bestsellerliste geschafft hat. Die Geschichte von einem Mann, der zwei Frauen liebt und sich genötigt sieht, eine Zukunftsentscheidung gegen eine der beiden Geliebten zu treffen, ist ein Buch über das langsame Altern. Und über die rätselhafte Scheu und das Zögern vor der Liebe. Und über die Unfähigkeit zur Entscheidung. "Seiner Rationalität folgend meint der Mensch in den ersten beiden Dritteln des Lebens, dass er kein zur Monogamie neigendes Wesen ist", sagt Genazino. "Die so genannte Einehe wird zwar in der Regel eingehalten, aber abweichende Wünsche müssen ja doch mit aller Heftigkeit unterdrückt werden. Und das ändert sich dann im letzten Drittel. Es tritt ein Fürsorgeaspekt in den Vordergrund, und der Mensch will von Polygamie nichts mehr wissen. Dann will er klare und feste Verhältnisse." Der Held in Genazinos "Liebesblödigkeit" ist an diesem Punkt angelangt, ohne dem Rechnung tragen zu können. Am Ende erkennt der 52-jährige Erzähler, dass es schon tragisch sei, Tragik vermeiden zu wollen. Er, der freiberufliche Apokalyptiker, lebt weiter wie bisher und steuert auf eine unvermeidliche Katastrophe zu. Auch in diesem Buch sind es vor allem die kleinen Skizzen alltäglicher Stimmungen und Geschehnisse, die berühren.

Mit Wilhelm Genazino am Main entlang zu gehen ist ein wenig so, als würde man mit einer seiner Figuren verabredet sein. Seine Helden teilen einiges mit ihrem Schöpfer. Wir flanieren vom Eisernen Steg Richtung Hauptbahnhof. Die halbe Stadt tummelt sich am Museumsufer, der Sommertag wird freudig begrüßt. Unterwegs begegnen wir einer mit Genazino bekannten Regisseurin, die den Roman "Die Obdachlosigkeit der Fische" dramatisieren möchte. Die beiden geraten rasch in eine Diskussion darüber, ob es nun Zufall oder Schicksal sei, sich ausgerechnet heute getroffen zu haben. Die Frage ließe sich leicht beantworten: Frankfurt ist ein Dorf.

Genazinos Blick erhascht während des Spaziergangs immer wieder ganz banale Alltagsszenen und verwandelt sie sofort in Reflexion - und Literatur. Auf einem Spielplatz schaukeln Kinder. "Ich spüre natürlich die Melancholie", sagt Genazino, "dass dieses kindliche Tun für immer vorbei ist, was ein bisschen lächerlich wirkt, weil es ja schon seit 50 Jahren vorbei ist. Trotzdem wird die Dramatik des Abschieds im Alter deutlicher fühlbar. Dieses Gefühl teilt sich mit einer übertriebenen, lächerlichen Heftigkeit mit. Auch das bedeutet Altern: Ein falsches Timing von Heftigkeiten."

Die schwerelosen Titel seiner Romane sprechen von diesen melancholischen Empfindungen: "Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz", "Die Liebe zur Einfalt" oder "Das Licht brennt ein Loch in den Tag". Wilhelm Genazino schafft es wie kein zweiter, die "Gesamtmerkwürdigkeit des Lebens" in diesen Büchern zwar nicht aufzulösen, aber aufzudröseln. Seine Literatur, die aus dem Scheitern am Verstehen der Welt entsteht, tröstet die Leser über ihr eigenes Unverstehen hinweg. Zu mehr ist Literatur nicht imstande. Mit weniger aber sollte man sich nicht zufrieden geben.

Titelbild

Wilhelm Genazino: Die Liebesblödigkeit. Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2005.
202 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3446205950

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