Reproduktion der Macht
Pierre Bourdieu untersucht den französischen Staatsadel
Von Florian Fuchs
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseSchon die Einlassungen der ENA-Chefin Marie-Françoise Bechtel zeigen wie aktuell Pierre Bourdieus 1989 in Frankreich und 2004 auf Deutsch erschienener Klassiker der Soziologie noch heute ist: Ihre Weigerung, die Zulassungskriterien für junge Leute armer Herkunft zu lockern, begründete sie damit, dass der Concours - die gefürchtete Aufnahmeprüfung - die einzige Garantie eines Zugangs ohne Diskriminierung sei, da es hier ja nur auf die Leistung ankäme.
"La Noblesse d'état" ist die Summe einer über zwanzigjährigen Beschäftigung mit dem elitären französischen Bildungswesen. Um in Frankreich in einem höheren Amt arbeiten zu können, ist eine Ausbildung an einer der 187 Grandes Écoles quasi-obligatorisch. Die universitären Titel sind ein quasi-verbrieftes Recht der Absolventen auf den hohen Staatsdienst. Die Schlüsselpositionen in Staat, Politik und Wirtschaft werden - oder wurden bis vor kurzem - von den so genannten Enarques, den Absolventen der ENA besetzt. Ein strenges System permanenter Selektion sorgt dafür, dass, obwohl die Prüfungen anonym ablaufen, in steigendem Maß Söhne der Funktionärs-Elite initiiert werden. Wer die Sekundarstufe "überlebt", die entsprechenden Gymnasien besucht und obendrein noch eine gute Platzierung auf der am Jahresende veröffentlichten Liste einnimmt, der kann sich bei der ENA bewerben. Jedoch: "Die wenigen Söhne von kleinen Funktionären, Arbeitern, Angestellten und Angehörigen des einfachen und mittleren öffentlichen Dienstes verschwinden alle zwischen der schriftlichen und der mündlichen Prüfung." Denn der schulische Erfolg ist in Frankreich in einem besonders hohen Maß von bestimmten sprachlichen Fähigkeiten und kulturellen Kompetenzen abhängig. Wie schon in dem gemeinsam mit Jean-Claude Passeron verfassten Buch "Die Illusion der Chancengleichheit" (1972), zeigt Bourdieu, wie Erfolg und Misserfolg im Bildungswesen auf familiäre Orientierungen zurückzuführen sind. Eine "informativ-performative" Sprache dient als Erkennungszeichen der Elite untereinander. Der milieubedingte Habitus wird so in den mündlichen Prüfungen zum entscheidenden Vorteil.
Um zu verstehen, wie die Reproduktion der Macht vonstatten geht, war es notwendig, "eine ungeheuer breit angelegte Untersuchung über alle für das Feld der Macht konstitutiven Felder" durchzuführen: Die Welt der Wirtschaftsbosse, Politiker, Eliteuniversitäten wird mit Protokollen von Prüfungskommissionen, Interviews mit Schülern und Professoren und zahllosen Statistiken als ein geschlossener Zirkel deutlich gemacht, wobei die Diplome ungefähr die selbe Funktion haben, wie die Adelsprädikate des Ancien Régime. Wie in "Die feinen Unterschiede", das auf der Analyse der Schule aufbaut, zeichnet Bourdieu auch hier die Übereinstimmung von gesellschaftlicher Rolle und Selbstbild nach - selbst in den vermeintlichen Abweichungen. Bourdieu rechnet anhand seines umfangreichen Materials geradezu vor, wie Milieu, Verwandtschaftsbeziehungen usw. die individuelle Disposition determinieren.
Bourdieus Studie über die Reproduktion der Macht-Elite steht im Kontext einer Soziologie von Macht und Herrschaft. Bei dem Unternehmen, "die verborgenen Mechanismen der Macht zu enthüllen", spielt die Analyse des Bildungswesens als Reproduktion von Klassengegensätzen und der "Kultur" als Verschleierung derselben eine kaum zu überschätzende Rolle. Das Schulsystem hat vor allem die Aufgabe, die Legitimität der Kultur zu vermitteln und einzuprägen.
In der für das Bildungswesen konstitutiven "Begabungsideologie", die "soziale Privilegien in Verdienste umwandelt", sieht Bourdieu eine, wenn nicht die entscheidende "Grundvoraussetzung des Schul- und Gesellschaftssystems". Die "Begabungsideologie bietet nicht nur der Elite die Möglichkeit, sich in ihrem Dasein gerechtfertigt zu sehen, sie trägt auch dazu bei, den Angehörigen der benachteiligten Klassen das Schicksal, das ihnen die Gesellschaft beschieden hat, als unentrinnbar scheinen zu lassen. Denn sie bringt sie dazu, das als naturbedingte Unfähigkeit wahrzunehmen, was nur die Folge einer inferioren Lage ist, und redet ihnen ein, dass ihr soziales Los (das mit fortschreitender Rationalisierung der Gesellschaft immer enger mit ihrem schulischen Schicksal verknüpft ist) ihrer individuellen Natur, ihrem Mangel an Begabung geschuldet ist." In der Konsequenz führe das zu einer unfreiwilligen Komplizenschaft der Beherrschten, zu einer Verkennung und Anerkennung, die für Bourdieu einem stillschweigenden Einverständnis, einem "Akzeptieren der Unterdrückung" gleichkommt. Der "egalitäre Mythos" der "befreienden Schule" verhindert so "die Entdeckung der Schule als konservativ und ungerecht, obwohl, und ich füge hinzu, weil sie formal gerecht ist." Dieser Mechanismus zur Perpetuierung sozialer Ungleichheit funktioniert "um so besser, je vollkommener die formale Gleichheit realisiert ist." Diese "charismatische Ideologie" der Begabung oder Kompetenz beruht in also hohem Maße auf Naturalisierung, das heißt dem Versuch, sozial Bedingtes und Gewordenes als natürlich erscheinen zu lassen, als "fraglos Gegebenes." Insofern "leistet das Schulsystem einen Beitrag zur Legitimierung der sozialen und ökonomischen Ungleichheit, indem es einer sozialen Ordnung, die auf der Übertragung ökonomischen und immer stärker auch kulturellen Kapitals beruht, den Anschein einer Ordnung verleiht, die auf schulischen Verdiensten und individueller Begabung basiert."
Bourdieu empfiehlt eine "rationale Pädagogik" als Gegengift zur "kumulativen Benachteiligung." Die Forderung nach einer alternativen Bildungspolitik korrespondiert mit der Forderung eines europäischen Wohlfahrtsstaats als kleinerem Übel gegen einen entfesselten Neoliberalismus. Der Entzauberer intellektueller Selbstherrlichkeit war zugleich der Kämpfer für eine neue internationale Intellektuellenbewegung. Bourdieu verteidigte die Möglichkeit des kritischen Intellektuellen und war ein Kopf der Antiglobalisierungsbewegung. Im Sommer 2000 forderte er angesichts des "Elends der Welt" "eine neue europäische Aufklärung." Durch die "immensen Veränderungen" aller Lebensverhältnisse im Zeichen des Post-Fordismus respektive Neoliberalismus sah sich Bourdieu zu einem direkten politischen Engagement genötigt. Der Soziologe ist vom Politiker also nicht zu trennen. Angesichts einer zwischen totaler Ablehnung und kritikloser Affirmation changierenden Rezeption Bourdieus, scheint es angezeigt, einmal auf seinen an Max Weber erinnernden entzaubernden Blick, auf seine sachliche Ethik, d. h. seinen Stil hinzuweisen ("Soziologie als Beruf"). Es handelt sich um einen kränkenden Determinismus, der manchmal gegen besseres Wissen, die Reflektionspotenziale der Menschen abspricht, um sie zu aktivieren. Nur so kann man Bourdieus Rolle zwischen politischem Engagement und Wissenschaft richtig einschätzen. Und nur so erklärt sich die immense Strahlkraft seiner Ideen, die immerhin schematisch genug waren, um eine eigen Schule zu bilden.
Gleichwohl hat man Bourdieus Staatsbegriff - trotz offenkundiger Nähe zu Louis Althussers Theorie der Subjektivikation durch Anrufung und Michel Foucaults epistemologischer Genealogie der Macht - ebenso wie seine Intellektuellenkonzeption als zu affirmativ kritisiert. Denn im Bewusstsein, dass die (Neo-)Liberalen den Abbau des Staates mittlerweile vorantreiben, unterschied Bourdieu zwischen einem guten Staat und einem schlechten, bzw. einem kleinen und einem großen Staatsadel. Den "kleinen Staatsadel", die Lehrer und Beamten, die sich von dem "großen Staatsadel zunehmend allein gelassen fühlen, gelte es zu unterstützen, um den Wohlfahrtsstaat zu erhalten." Der Gute ist der Staat, der die Chancengleichheit und die Durchlässigkeit des Systems wieder herstellt und sich um die Menschen sorgt, statt sie einfach zu verwalten. Im Übrigen scheinen die jüngsten Streiks im Bildungswesen wie im Kultursektor dem vor drei Jahren verstorbenen Soziologen Recht zu geben, dessen Denken bei den Globalisierungsgegnern sehr präsent ist und der auf dem besten Weg war, ,ein neuer Marx zu werden'.
Paradoxerweise also läuft Bourdieu mit seiner fundamentalen Kritik eines Systems der Eliten, wie es die Grandes Écoles in Frankreich repräsentieren, heute selbst bei den von ihm so leidenschaftlich bekämpften Neoliberalen offene Türen ein. Denn dieses System hat sich als zu starr erwiesen, zu unflexibel, um den Anforderungen des Marktes zu genügen.
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