Komische Reisen

"Reisen in das befremdliche Pompeji" von Thorsten Fitzon

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seltsame Ausflüge hat jeder schon hinter sich gebracht. Meistens wird man von diesen seltsamen Reisen erzählen, und sicherlich ist der eine oder andere dieser "Ausflüge" auch als befremdlich zu bezeichnen. Ausschnitte dieser mündlichen Reisebeschreibungen schlagen sich manchmal auch als schriftliche Berichte nieder - im 18. und 19. Jahrhundert mehr noch als in der Gegenwart. In der vorliegenden Monografie sind Aufzeichnungen von Erlebnissen dieser Art zentraler Untersuchungsgegenstand. Die beleuchteten Texte werden kurz umschrieben: "Die vorliegende Analyse verzichtet darauf, die Gattungsmerkmale abschließend einzugrenzen und greift auf einen erweiterten Literaturbegriff zurück, wie ihn Wolfgang Neuber für die Analyse des Reiseberichts vorschlägt. Der Reisebericht wird demnach als rhetorisch geformter Text gelesen, dessen Wirkungsabsicht es ist, Authentizität zu fingieren."

Eines der bevorzugten Ziele von Italienreisenden des 18. und 19. Jahrhunderts wird in der vorliegenden Monografie genauer betrachtet. Zeitlich orientiert sich die Untersuchung einerseits an den ersten Ausgrabungen von Herakulaneum und Pompeji, andererseits - mutatis mutandis - am Beginn der wissenschaftlichen Ausgrabungen in Pompeji mit der seit 1860 übernommenen Ausgrabungsleitung durch Giuseppe Fiorelli. Hinzu kommt die scheinbar hohe touristische Attraktivität des Ortes Pompeji für den Italienreisenden: "Annähernd jede dritte Reise, die zwischen 1750 und 1870 überhaupt nach Italien unternommen wurde und in einen publizierten Bericht einging, führte auch nach Pompeji." Man fuhr nicht hierher, um eine alte oder gar eine neue Kultur zu entdecken. Es ging um die Besichtigung der eigenen Kultur, die hier wiedererkannt werden wollte. Die Reaktionen auf die Reiseerlebnisse waren unterschiedlicher Natur und mit verschiedenen Verarbeitungsstrategien verbunden, wenn die Wirklichkeit - also die besichtigten Ausgrabungsstätten - nicht dem Erwarteten entsprachen. Ein Aspekt spiegelt sich in dem Untertitel der vorliegenden Studie wieder, die "antiklassizistische Antikenwahrnehmung". Dass sich der Autor bei seiner Untersuchung auf die deutschen Italienreisenden beschränkt, macht den untersuchten Textkorpus kommensurabel und das entstehende Bild der Rezeption der Antike im 18. und 19. Jahrhundert um einiges klarer.

Unter den Überschriften "Reisen und Beschreiben", "Reiseformen und Reisewege", "Ausgrabung und Ausstellung im Spiegel der Reiseliteratur", "Irritation und Modifikation des Klassizismus" und "Pompeji zwischen Periegese und Poesie" gibt der Autor einen Einblick in das Reisen nach Pompeji, in die Erwartungshaltungen der Reisenden und in die Erlebnisse und Enttäuschungen beim Erkunden des Reiseziels. Jedes der Kapitel kann in einem hohen Maße mit detailfreudigen Beschreibungen aufwarten, dabei verliert der Autor nicht den Blick für das Wesentliche und für die Intention der gesamten Arbeit. Einerseits gilt es die Übereinstimmungen herauszuarbeiten, die bei der Wahrnehmung von Pompeji in Bezug auf die griechische Antike als "eigene" Kultur gesehen wurden, andererseits um die Disharmonien, die bei der Rezeption der Ausgrabungen vor Ort wahrgenommen wurden. "Die Rezeption Pompejis in der Reiseliteratur um 1800 bestätigt [...], dass der Weimarer Klassik 'Ausweitungen und Grenzüberschreitungen ebenso inhärent wie die Einengungsversuche des Kunst- und Literaturverständnisses und die wertenden Festlegungen aus höchstem, fast verzweifelt hohem Anspruch' heraus gewesen sind. Die Berichte über Pompeji zeigen einerseits, wie beweglich die Formation des Klassizismus um 1800 mit den Strategien der Assimilation, Historisierung und Perspektivierung auf irritierende Realien reagierte." Die Offenheit und Neugier der antiken Kultur gegenüber hatte sich ab der Mitte des 18. Jahrhunderts über verschiedene Aneignungsstrategien nahezu ins Gegenteil verkehrt: "Zum Ende des 19. Jahrhunderts überwiegt in Reiseliteratur und Dichtung das Klischee von der hedonistischen und libertinen Venusstadt, die einem römischen Sodom und Gomorrah glich, und deshalb die gerechte göttliche Strafe des Untergangs erfahren habe. Von der anfänglichen Offenheit der Bewertungsmuster, mit denen der Klassizismus den kampanischen Städten begegnete, blieb kaum etwas zurück."

Die Monografie wurde mit einer kommentierten Bibliografie versehen, die sogar Standortnachweise enthält. Ein Register erleichtert die Arbeit mit dem Band erheblich. Der Leser hält eine gute Arbeit in Händen, klar strukturiert, gut zu lesen, manchmal vielleicht für eine schnelle Durchsicht zu materialfreudig, aber mit Register und Bibliografie zusammen ein gutes Arbeitsmittel zur Reiseliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts, zur Rezeption der Antike um 1800 und zusätzlich noch eine spannende Quelle zum deutsch-italienischen Kulturtransfer.

Titelbild

Thorsten Fitzon: Reisen in das befremdliche Pompeji. Antiklassizistische Antikenwahrnehmung deutscher Italienreisender 1750-1870.
De Gruyter, Berlin 2004.
454 Seiten, 98,00 EUR.
ISBN-10: 3110178982

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