Optimisten schreiben schlecht

Über Widersprüche in Arno Schmidts Kritik an Adalbert Stifters „Nachsommer“

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

„Schon von Knabenzeiten an hat mich – der ich ansonsten durchaus geneigt bin, Adalbert Stifter für einen großen Mann zu ästimieren! – der ‚Nachsommer‘ geärgert“, schreibt Arno Schmidt am 27.1.1958 an den Redakteur des Süddeutschen Rundfunks Stuttgart, Alfred Andersch, um seinen eingesandten Stifter-Funk-Essay „Der sanfte Unmensch (Einhundert Jahre ‹Nachsommer›)“ zu erläutern.

Sehr zum Befremden Anderschs, der postwendend antwortete: „Aber mit dem ‚Sanften Unmenschen‘ haben Sie uns nun wirklich in ein außerordentliches Dilemma gestürzt. Die Verve ihres Angriffs ist, wie immer, hinreißend. Aber [Helmut] Heißenbüttel und ich befinden sich in der Situation von Leuten, die, von Ihnen mitgerissen, kurz vor dem Ziel stolpern und liegen bleiben und ein wenig beklommen zusehen, wie Sie den armen Stifter zurichten. Haben Sie etwas übrig für Psychologie? Dann müssen Sie verstehen, daß unsere Sympathien hier auf der Seite Stifters liegen. Außerdem erinnern wir uns eines Schmidt, der schon einmal vehement für Stifter Stellung genommen hat.“

Schmidt sieht sich zur Verteidigung seines polemischen Textes genötigt, will er das dringend benötigte Honorar für seine Arbeit nicht verlieren: „Selbstverständlich habe ich auch schon einmal für Stifter Stellung genommen (und würde auch auch heute noch jederzeit einige der Studien, der Erzählungen, und meinethalben auch den Witiko rühmen!)“ Im Endeffekt hatte er in dieser Diskussion Erfolg, und damit konnte einer der polemischsten Schmidt-Texte der Nachkriegszeit dann doch noch sein (teils verärgertes) (Radio-)Publikum finden.

Gleich zu Beginn des Essays stellt der Sprecher A die zentrale, für Schmidt so typische Forderung auf: „Eines aber sollte jeder Dichter einmal leisten: ein Bild der Zeit uns zu hinterlassen, in der er lebte!“ Eine ohne Zweifel wichtige Formulierung: Gemäß dem bestehenden literaturwissenschaftlichen Konsens, wonach Schmidts Arbeiten für den Hörfunk in erster Linie als Selbstbeschreibungen zu lesen seien, darf man annehmen, dass er diesen historisch-mimetischen Anspruch des ‚Zeitbilds‘ zu allererst auch an seine eigenen Werke stellte.

Gleichzeitig liegt hier aber auch die tiefe Faszination begründet, die Schmidt „Großbüchern“ wie Stifters „Nachsommer“ entgegenbrachte: „Ein umfassendes Buch war vollendet“, heißt es im Funk-Essay über den „Nachsommer“ zunächst einmal anerkennend: „Eintausend Seiten Dünndruck – das sind zehn Goethe’sche ‹Werther›! 1 Komma 4 Millionen Buchstaben! Dazu, was mehr ist: ein Zeitroman, der Stifterschen Gegenwart von 1805 bis 1868 entnommen“. Der Kritiker setzt damit zumindest den Maßstab, nach dem er das besprochene Werk zu beurteilen gedenkt: Stifter legt ein im Sinne Schmidts admirables Großbuch vor – liefert er aber tatsächlich auch das geforderte „Bild der Zeit“ von 1805-1868?

„Am 23. Oktober 1805 wird Adalbert Stifter geboren?: Da schreibt sie, unser Aller Mutter, die Große Französische Revolution von 1789, noch den 1. Brumaire des Jahres XIV! – Um Stifters ganzes Leben stehen, ein Hag von Feuerflammen, die Sturmzeichen der Kriege und Revolutionen!“ Mit diesen donnernden Hinweisen ist Schmidts späteres Urteil bereits stirnrunzelnd angekündigt. Denn von derlei Weltereignissen ist bei Stifter im „Nachsommer“ bekanntlich rein gar nichts zu lesen. Genausowenig wie zur Französischen Revolution von 1830, und vor allem derjenigen von 1848, die schließlich auch in Stifters damaliger Heimatstadt Wien ihre blutigen Folgen zeitigte.

Sie trieb den zunächst von der Euphorie der Ereignisse durchaus noch mitgerissenen Metternich’schen Hauslehrer Stifter sehr bald in die Flucht aus der Hauptstadt der habsburgischen k.u.k.-Monarchie in die friedliche Provinz nach Linz. Nach 1848 nahm dann der aufkommende Neoabsolutismus die bürgerlichen Freiheiten, die 1848 aufgrund der Unruhen zunächst gewährt werden mussten, schrittweise zurück und war 1855 bereits wieder voll installiert. „Stifters Leben war also in zwei Restaurationsepochen eingebettet, in denen absolut regiert wurde und abweichende Meinungen von der Regierungsdoktrin mit gesellschaftlichen Nachteilen verbunden waren“, erläutert der Literaturwissenschaftler Alfred Doppler Stifters biografische Situation.

Schmidts Kritik des „Nachsommers“ hakt genau hier ein. Sie zählt auf, was Stifters turbulentes Jahrhundert historisch prägte und dennoch in seinen Texten absent bleibt. Jedes Puzzleteil der kleinen, einführenden historischen Bildersammlung Schmidts entpuppt sich im Verlauf des Essays als eine Ohrfeige mehr für Stifter. Der Leser ahnt hier schon zu Beginn des Textes, was unweigerlich folgen wird: „B. (unsicher=mißtrauisch): War; Stifter; dabei?? -“

Nun – er war es, zumindest im „Nachsommer“, offensichtlich nicht. Schmidts humoristische Könnerschaft ist es, schon in einer Zusammenfassung der „Handlung“ des Romans den bis zum Überdruss wohlanständigen zwanzigjährigen Helden Heinrich Drendorf und seine pedantische Umgebung der blanken Lächerlichkeit preiszugeben. Schmidt beschreibt den Protagonisten als „die merkwürdigste Mischung von altkluger Weisheit und Ausdauer, und sanfter schnöder Herz= und Gefühllosigkeit; so Einer, der den Notizzettel durchstreicht, ehe er ihn zerreißt, zusammenknüllt, und wegwirft: Heinrich, mir graut’s vor Dir!“

Der literarischen Sprödigkeit des Stifter’schen Romans die blanke, beißende Ironie entgegenzusetzen, stellt sich für den Funk-Essay als äußerst effektvolles Schattenspiel heraus. Denn wo Schmidt in schneller, lebendiger Folge helle Schlaglichter auf die Geschichte des 19. Jahrhunderts richtet und sich dem kritisierten Roman mit funkensprühendem Witz nähert, garantiert im „Nachsommer“ der „Würgengel vermeinter Sittsamkeit […] die stereotypste Starre und Kälte: im ganzen Buch lacht nicht ein Mensch!“

Inmitten der aus dieser Perspektive so nutzlos wirkenden Zeitvertreibe der Romanfiguren um Stifters Heinrich entdeckt Schmidt aber nicht nur die Lächerlichkeiten der Pedanterie und des tierischen Ernstes, sondern auch – und das wird zum hauptsächlichen Kritikpunkt des Essays – die grundlegende Unmenschlich- und Gefühllosigkeit des als offen konterrevolutionär rezipierten Kunstprogramms Stifters. So schreibt Schmidt über Heinrich: „Und des altklugen Gewäsches – unerträglich im Munde eines Zwanzigjährigen! – ist kein Ende. Nichts geschieht aus dem Stegreif; alles nach endloser tüftelnder Überlegung: die bekannte Tatsache, daß Leben Hakenschlagen heißt – oder, vornehmer: Improvisieren – wird glattweg geleugnet: wir restaurieren Kirchen, und ehren das Mittelalter, im sorgfältig geregelten, durchaus staatserhaltenden Müßiggang“.

Und tatsächlich: „Mit Begeisterung begrüßte [Stifter] die durch die Märzrevolution 1848 errungenen bürgerlichen Freiheiten, mit einer Begeisterung, die bald von der Angst durchzogen wurde, die demokratischen und nationalen Tendenzen der Revolution könnten zur Auflösung der österreichischen Monarchie führen“, schreibt Doppler. „Die weiteren Revolutionsereignisse, vor allem die vom Oktober 1848, erschienen Stifter aber dann nur noch als der Ausbruch von Leidenschaften und als das Überschießen ungezügelter Begierden, und er wähnte, das ‚Ideal der Freiheit […] auf lange Zeit vernichtet‘“.

Auch ein Blick in Franz Baumers Stifter-Monografie von 1989 bestätigt zunächst einmal Arno Schmidts frühe Befunde über den ‚kaltherzigen‘ Revolutionsgegner Stifter: „So groß ist seine Enttäuschung über deren Verlauf gewesen, daß ihn bei seiner Angst vor dem Chaos selbst die Kanonen, mit denen die österreichische Militärdiktatur eines Windischgrätz und Haynau das Volk und die aufbegehrenden unteren Klassen erbarmungslos zusammenkartätschte, weniger schreckten als die Leidenschaftsausbrücke der Aufständischen.“

Stifter nannte also „das den Befreiungsakt, in dem ’sich endlich die Menschen in Verzweiflung erhoben und mit Kanonen und Waffen ein Ende machten‘“, wie Urban Roedel den Schriftsteller zitiert. Die Anführer der Vorkämpfer für soziale Gerechtigkeit erscheinen in Stifters verzerrter Wahrnehmung bloße Demagogen, Verführer und Egoisten. Das Jahr 1848 wird von ihm geradezu „als Einbruch des Tierischen und Häßlichen erlebt und zum entscheidenden Erlebnis für den Erzieher Stifter, die Kunst wieder in den Dienst Gottes zu stellen“, um sie zur „Magd der Sittlichkeit“ zu machen, wie der Germanist Gerald Stieg bemerkt. Stifter sieht bereits 1849 nur noch einen – so wörtlich – „Hunnenzug des Proletariats“ über sein Land fluten. Sein „Glaube an die Gottähnlichkeit des Menschen war dahin“.

Die „Freiheit“, die Stifter also selbst verzweifelt suchte, „war die reine sittliche Göttin, ein Ideal, das in der Politik nur durch den Staat und nur allmählich verwirklicht werden könne; realpolitisch wäre diese Anschauung nur dann zu nennen, hätte sie einem Staat gegolten, der nicht wie Österreich von einer gewalttätigen Soldateska und einem geistesschwachen Monarchen regiert wurde“, urteilt Roedl.

Die sich als Folge dieser Missverständnisse auch im Stil des „Nachsommers“ niederschlagende, eigentümliche soziale Gefühllosigkeit gereicht Schmidt nun dazu, den noch kurz zuvor von ihm selbst an Stifter so gelobten Detailrealismus zwischen „Käfer & Butterblumen“ schroff zu demontieren: „Ja, wenn’s doch nur der Fall wäre! Wenn Stifter doch redlich ‚das Kleine‘ abgebildet hätte – hat doch der große Alfred Döblin sehr wohl den ‚Tod einer Butterblume‘ beschrieben. Aber wo ist hier im ‚Nachsommer‘ das tägliche Elend des Landarbeiters? Wo ist das Grauen einer Welt, deren Geschöpfe dadurch leben, daß Eins das Andere auffrißt?! Hätte er doch all die Urfänomene nicht vergessen, deren keines der Kreatur erspart bleibt: Hunger; Krankheit; Armut; Tod; Häßlichkeit; Trunksucht; Prostitution; Verbrechen – (kleine, boshafte Pause): Selbstmord! -; ja, auch das Ekelhafte: sind ewig: denn sie sind!“

Schmidt bringt hier seine eigene gnostische Kosmogonie, wie er sie in seinem düsteren Debüt „Leviathan“ (1946) postulierte, gegen die ihm so seelenlos erscheinende Messtischblattpedanterie Stifters in Stellung, der das Leid der Welt in seinen späten Werken seiner Ansicht nach zunehmend leugnete und ausblendete. Stifter, auf dessen späteren Selbstmord (1868) Schmidt in der zuletzt zitierten Passage seines Stifter-Essays boshaft anspielt, vertritt zumindest in seinen politischen Schriften die Gegenposition zu Schmidts pessimistischer Weltsicht, die einen bösen Schöpfergott annimmt.

„Kein Weltgeist, kein Dämon regiert die Welt: was je Gutes oder Böses über die Menschen gekommen ist, haben die Menschen gemacht“, schreibt Stifter. „Gott hat ihnen den freien Willen gegeben und hat ihr Schicksal in ihre Hand gelegt. Dies ist unser Rang, dies ist unsere Größe. Dagegen müssen wir Vernunft und freien Willen, die nur als Keime gegeben werden, ausbilden; es gibt keinen anderen Weg zum Glück der Menschheit, weil Vernunft und freier Wille dem Menschen allein als seine höchsten Eigenschaften gegeben sind und weil sie immerfort bis zu einer Grenze, die wir jetzt noch gar nicht zu ahnen vermögen, ausgebildet werden können.“

Dass Vernunft und Geist als verborgene göttliche Keime im Menschen angelegt sind, ist zwar auch eine gnostische Annahme. Doch der freie Wille, wie ihn Stifter zu erkennen glaubt, ist für Schmidt nur ein müdes Lächeln wert: „Ich bin immer ein Gegner der Lehre von der Willensfreiheit gewesen; nicht nur, weil ich 6 Jahre beim Militär gedient habe; sondern auch aus theoretischen Erwägungen – als Eideshelfer zitiere ich außer dem großen Schopenhauer noch Voltaire; Freud; Spinoza; für Fromme Luther.“

Da sich Stifters katholische Weltsicht auch in seinen literarischen Texten niederschlägt, greift für den selbst ernannten Aufklärer Schmidt in ihrer Beurteilung der apodiktische, in „Zettel’s Traum“ (1970) verfochtene Grundsatz: „DIE CHRISTEN SCHREIBEN SCHLECHT!“ Mehr noch: Stifters literarische Meisterschaft im „Eliminieren unangenehmer Fakten“ und gesellschaftlicher Missstände ist für Schmidt im „Nachsommer“-Essay sogar „eine Prämisse, die den Völkern nicht nur immer wieder einen Hitler nach dem anderen beschert; sondern womit damals gerade Stifters Österreich nachgewiesenermaßen in Grund und Boden regiert wurde!“

Der Polemiker stellt damit auch gewisse Tendenzen in der Rezeption Stifters kurzerhand in einen historisch so dann doch nicht mehr haltbaren Kausalzusammenhang mit autoritätshörigen Einstellungen, die schließlich in die absolute Vernichtungskatastrophe des 20. Jahrhunderts geführt haben: Ausgerechnet Schmidt, dem später nicht wenige Kritiker selbst den Rückzug in den literarischen ‚Elfenbeinturm‘ vorwerfen sollten und dem nicht zuletzt antidemokratische Ressentiments alles andere als fremd waren, klagt also Stifters angebliche elitäre „Magna Charta des Eskapismus“ heftig an, um dagegen seine eigenen Vorstellungen eines lückenlos zeitabschildernden Großromans zu unterstreichen.

Doch wer ist hier eigentlich der gesellschaftliche ‚Aussteiger‘, mag man sich da im Blick auf Schmidts eigene Biografie fragen. Das Erlebnis des Zweiten Weltkriegs war für ihn bekanntlich der ausschlaggebende Grund, seine eigene „Austrittserklärung aus der menschlichen Gesellschaft“ zu verkünden. Und es sind bezeichnenderweise genau diese Worte, mit denen er schließlich – in seinem zweiten polemischen Stifter-Essay „…und dann die Herren Leutnants! Betrachtungen zu ‚Witiko‘ & Adalbert Stifter“ (1965) – auch Stifters Spätwerk abkanzeln zu können meint.

Bei aller Kritik Schmidts sei deswegen abschließend daran erinnert, dass er seine vielfältigen Gemeinsamkeiten mit Stifter dennoch bis zuletzt nicht verleugnen kann. Denn die frappierende Ähnlichkeit seines Habitus, das Chaos der Welt zu verabscheuen und sich aus der Gesellschaft konsequent in die Literatur zu flüchten, ist ja bei Schmidt und Stifter gleichermaßen augenfällig.

Anders herum hat W. G. Sebald schon einmal deutlich gemacht, dass Stifters Werk ähnlich wie dasjenige Schmidts „seinen eigentlichen Schwerpunkt in einem profunden Agnostizismus und bis ins Kosmische ausgeweiteten Pessimismus hat.“ Letztlich war also auch Stifter gar nicht mehr der epigonale Priester, der in einem am Rande des kulturellen Umbruchs der Industrialisierung taumelnden Jahrhundert noch ein letztes Mal die verlorene Liturgie einer absoluten Ordnung zelebrierte, sondern „er war insgeheim doch schon, ähnlich dem armen Pfarrer in Kafkas ‚Landarzt‘, mit dem Zerzupfen seiner Meßgewänder beschäftigt“, wie Sebald es umschreibt: „Der von Arno Schmidt […] erhobene Vorwurf, Stifter habe mit dem ‚Nachsommer‘ ein quietistisches Werk verfaßt, dem politisch die finstere Reaktion entspreche“, argumentiert er, ziele insofern zu kurz, als diese bewusste Utopie von der Bejahung des Bestehenden soweit entfernt sei „wie ihre hilflose Gestalt von dessen realer Aufhebung.“

Auffällige Ähnlichkeiten der Poetologie Schmidts mit der Stifters bleiben auch nach Schmidts vernichtender Kritik an dem (einstigen) Vorbild unübersehbar. Franz Baumer etwa schreibt über das zentrale Credo Stifters: „Dichtung wird zu einer Gegenwelt, die aus dem schmerzlichen Prozeß der Selbstbezwingung, des Verzichtens und der Resignation ihres Schöpfers entstanden ist.“ Schmidt aber antwortete nach der Abfassung seiner monumentalen ‚Gegenwelt‘ „Zettel’s Traum“ auf die Frage des ‚Spiegel‘-Reporters Gunar Ortlepp, wie denn ein solches Buch zu Stande käme, nicht viel anders: „Ganz einfach: Sie müssen aufs Leben verzichten. Ich mag in dieser Hinsicht altmodisch sein. Aber wenn man in den Künsten etwas Eigenes und Neues und Gutes, sogar Großes leisten will, dann muß man viele Jahre an die Arbeit. Ich habe keine 40-Stunden-Woche, meine Woche hat 100 Stunden – wenn ich Glück habe. Und ich muß ein Leben führen, daß daneben ein Säulenheiliger wie ein Lebemann wirkt.“

Spuren dieser burlesk überzeichneten Askese finden sich auch in „Zettel’s Traum“ selbst zuhauf, wo sich der Protagonist Daniel Pagenstecher als „praktisch S[ex]=tot, nur noch ein lascher HautSchlauch voller Buchsta/ubbn!…)“ bezeichnet und verkündet, er sei nie „ein ‚Welt‘= oder ‚Lebe=Mann‘ gewesn; habe, (weit=gehend), darauf verzichtet, zu ‚existiren‘-: Dafür versteh Ich was von Litteratour)“. Denn: „Ein Künstler, der was leistn – oder, wie Du/Ihr es audrückt: ‚was werdn‘ – will, muß gesellschaftlichen Selbstmord begeh‘n: Die ‚Freiheit‘ des BerufsSchriftstellers, ist imgrunde die härteste Frôn; zu der ébmso zähe Gesundheit, wie eisern=asketischer Wille gehör‘n.“

Tatsächlich hat Schmidt seinen Ahnen Adalbert Stifter mit „Zettel’s Traum“ sogar noch übertroffen. Zumindest, was die Herausforderung des Lesers betrifft, der eben zusehen muss, wie er das kiloschwere Buchstabenungetüm bewältigt. Wird doch auch für ihn „der Verdacht einer reinen Prosa=Elefantiasis“ (Schmidt) schnell zur Gewissheit.

Auch hier gilt also erst einmal Hebbels Bonmot, dem gebühre die Krone Polens, der es schaffe, den „Nachsommer“ durchzulesen, und zwar in gesteigertem Maße. „Ich hatte gelegentlich den Eindruck, Arno Schmidt habe hier weniger vom ‚Ulysses‘ als vom ‚Nachsommer‘ gelernt“, bemerkte Schmidts einstiger Rundfunkredakteur Helmut Heißenbüttel schon 1970 über „Zettel’s Traum“. Und auch sonst ist die Liste der (nicht nur) literaturwissenschaftlichen Verwandtschaftsdiagnosen angesichts verschiedener Schmidt-Texte und ihrem Verhältnis zu Stifters „Nachsommer“ mittlerweile lang.

Wolfgang Albrecht bemerkt etwa in seiner Arno Schmidt-Monografie (1998) über Schmidts letztes vollendetes Buch „Abend mit Goldrand“ (1975): „Gewagt sei die These, daß es sich um einen Gegenentwurf zu Stifters ‚Nachsommer‘ handelt, zu jenem Roman, den Schmidt wie kaum einen anderen seiner literarischen Lieblingsära vom 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert attackiert hatte.“ Jan Philipp Reemtsma hingegen schreibt Ähnliches über Schmidts Roman „Kaff auch Mare Crisium“ (1960): „Es gibt kein Buch von Schmidt, das derart virtuos, vielfältig und in solch stupenden Quanti- und Qualitäten Käfer, Butterblumen und weniger Erfreuliches links und rechts vom Wege schildert (auch der ‚Nachsommer, deutsch von Arno Schmidt‘ [eine vielzitierte, spöttische Bemerkung Schmidts, J. S.] liegt damit bereits vor).“

Und nicht zuletzt schreibt Arno Schmidt selbst am 16.8.1960 an den mittlerweile mit ihm befreundeten Alfred Andersch, um „Kaff auch Mare Crisium“ in die Genealogie zweier früherer berühmter Romane seines eigenen Werks zu stellen: „Auf KAFF sei nicht allzusehr gespannt: man drehe STEINHERZ und GELEHRTENREPUBLIK durch ein= und denselben Wolf; tue etwas Barg(f)eld und Mondschein dazu; werfe den Umschlag von Imre Rainer weg; und stelle das ganze dann ins Regal, hinter den NACHSOMMER. -“

Anmerkung der Redaktion: Der Text ist ein Auszug aus Jan Süselbecks bei Stroemfeld, Frankfurt am Main erscheinendem Buch „Das Gelächter der Atheisten. Zeitkritik bei Arno Schmidt & Thomas Bernhard“.