Die vierte Dimension

Inka Parei schreibt über die letzten Tage eines alten Mannes

Von Mechthilde VahsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mechthilde Vahsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Geschäft des Sterbens ist nicht leicht, es hat seine ganz eigene Zeit und verläuft nach Regeln, die - findet es jenseits von Medizin statt - nicht zu beeinflussen sind. Das Entscheidende dabei, so erlebt es der Protagonist in Inka Pareis zweitem Roman "Was Dunkelheit war", ist das Ineinanderschieben aller Dimensionen: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft heben sich auf, werden zu einer assoziativen Schleife aus Bildern und Geräuschen. Dieser vierten Dimension widmet sich der sehr klare und sinnliche, an dinglichen Details und dem Fluss des Bewusstseins orientierte Roman.

Der alte Mann, um den es geht, erbt ein Haus von Herrn Müller, an dessen Bekanntschaft in Kriegszeiten er sich nicht erinnern kann. Trotzdem zieht er von Berlin in diesen kleinen Ort nahe Frankfurt, bekommt 'Essen auf Rädern', beobachtet die Metzgersfamilie in der Nachbarschaft und das Geschehen rund um die Kneipe und das Hotel, die direkt an seine Wohnung anschließen. Ein täglicher Spaziergang mit seinen Gehhilfen vervollständigt einen Alltag, der sich zunehmend auflöst. Es beginnt mit unbekannten Geräuschen und einem jungen Mann, der dem über Siebzigjährigen merkwürdig bekannt vorkommt. Er ist aufgeschreckt und versucht sich zu erinnern.

Die Rückschau gelingt nur szenenweise, die Bilder schieben sich zusammen, das längst verdrängt Geglaubte hält Einzug, Emotionen brechen hervor, die Assoziationen gehorchen ihm nicht mehr. Es sind Bilder aus dem Zweiten Weltkrieg, den er als Soldat und später als Wächter eines polnischen Flüchtlingslagers mitgemacht hat. Blut, Gewalt, Sterben, Leiden, Schuld. Diesem Zustand jenseits von Wachen und Schlafen und Zeit ausgeliefert, stolpert er durch seine inneren Sequenzen - man weiß nicht, ob davon etwas in der fiktiven Realität stattfindet oder nicht - und endet schließlich auf einem Kohlenhaufen im Keller. Das Hinabsteigen in die verdreckten, unbenutzten Räume ist ein Zwang, dem sich der alte Mann nicht entziehen kann. Es ist zugleich das Absteigen in die eigenen verdrängten tiefen Erinnerungsschichten. Doch das Bemühen um psychische Stabilität verflüchtigt sich vor den Schrecken des Erlebten. Die letzte Erkenntnis, die darin gipfelt, dass der alte Mann seine Schuld begreift, führt nicht zurück, sondern leitet den Sterbeprozess ein.

Vollendet sich etwas? Oder kehrt nur etwas an den Platz zurück, an dem es zur Ruhe kommen kann? Mit "letzter Meisterschaft" (Siegfried Lenz) jedenfalls hat dieser Roman nichts zu tun. Hier kehrt ein Mensch am Ende seines Lebens zu den Erlebnissen zurück, die am eindrücklichsten waren, emotional intensiv besetzt. Die vierte Dimension umfängt ihn auf dem letzten Abschnitt und zwingt ihn gegen seinen Willen in diese Welt voller Bilder und Farben und Geräusche hinein. Ein friedliches Ende stellt man sich anders vor, keine Harmonie, kein Friede übertünchen hier die letzte Wegstrecke.

Und genau dies macht den Roman so überzeugend. Inka Parei beschreibt eine Figur, die sich mühsam durch das Dickicht der Erinnerungen bewegt. Nichts hat mehr Verbindung zu etwas anderem, alles ist der unkontrollierten Assoziation unterworfen. Der Alte kann nichts mehr zuordnen, alles bleibt vereinzelt, der Sinnzusammenhang fehlt völlig. Diese totale Auflösung wird auf allen Ebenen durchgehend aufrechterhalten, die stilistischen Elemente wirken auf die inhaltliche Ebene ein, untermauern Figur, Perspektive und Fragmente. Eine morbide Atmosphäre, die weder beschönigt noch beurteilt, sondern darstellt.

Für den Romananfang bekam Inka Parei 2003 den Ingeborg-Bachmann-Preis und den Publikumspreis. Zu Recht.


Titelbild

Inka Parei: Was Dunkelheit war. Roman.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
208 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-10: 3895611069

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