Der göttliche Vater und die Vergewaltigung der Welt

Wie Kafka, Rilke und andere Autoren der Moderne Kierkegaard lasen - mit Vorbemerkungen zur Bedeutung des Religionsphilosophen für Jürgen Habermas

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Rechtzeitig zum 150. Todestag des Dänischen Religionsphilosophen und Schriftstellers Sören Kierkegaard kursieren Diagnosen seiner Wiederauferstehung in der gegenwärtigen Philosophie und Literatur. Als Symptom dafür ließen sich nicht zuletzt einige jüngere Aufsätze von Jürgen Habermas anführen, die jetzt gesammelt in dem Band "Zwischen Naturalismus und Religion" vorliegen. Er enthält die Versuche und Plädoyers eines "religiös unmusikalischen Bürgers", wie Habermas sich selbst am 19. Januar 2004 in seiner Einleitung zu dem aufsehenerregenden Disput mit Kardinal Joseph Ratzinger, inzwischen Papst Benedikt XVI., bezeichnete (publiziert auch im Internet), die kognitiven und normativen Wahrheitsgehalte religiösen Glaubens durch Übersetzungen in eine säkulare, öffentlich und allgemein zugängliche Sprache postmetaphysischer Vernunft zu retten. In diesem Projekt, das eine vermittelnde Position zwischen den derzeit erstarkten Antagonisten "naturalistischer" Wissenschaftsgläubigkeit und religiöser Orthodoxie einnimmt, ist Kierkegaard eine wiederholt mit Sympathie genannte Figur. In dem Aufsatz "Die Grenze zwischen Glaube und Wissen" über die Wirkungsgeschichte und aktuelle Bedeutung von Kants Religionsphilosophie stellt Habermas die an individuellen Heilswünschen orientierte Religionsphilosophie Schleiermachers und Kierkegaards den atheistischen Aneignungen religiöser Gehalte jener Linkshegelianer gegenüber, die sich mit der "Idee vom Reich Gottes auf Erden" den "kollektiv befreienden Gehalt der jüdisch-christlichen Heilsbotschaft anzueignen" versuchten.

Die wiederholte Auseinandersetzung von Habermas mit Kierkegaard als Indiz für eine religiöse Wende seiner Intersubjektivitätsphilosophie zu werten wäre allerdings in zweifacher Hinsicht verfehlt. Zum einen lassen die Aufsätze bei ihren Gegenüberstellungen des "religiösen" und des "säkularen Bürgers" keinen Zweifel, welchem Typus der Autor sich selbst zuordnet. Zum anderen reicht die Sympathie für Kierkegaard bis in die Anfänge seines intellektuellen Werdegangs in den existentialistischen 1950er Jahren zurück. Darauf weist der öffentliche Vortrag hin, den Habermas im November 2004 bei der Entgegennahme des Kyoto-Preises hielt und der den Aufsatzband eröffnet. Erstmals geht Habermas hier auf die lebensgeschichtlichen Wurzeln seiner Sprach- und Moralphilosophie ein. Wie er hier auf seine Sprachbehinderung als inspirierende Erfahrungsbasis dieser Philosophie verweist, auf die Wahrnehmung des Kindes, dass "andere mich nicht verstanden" und "darauf mit Ablehnung reagiert haben", verleiht seiner Philosophie etwas von jener "existentiellen Wahrhaftigkeit", die den Studenten an Kierkegaard imponierte - und zunächst auch an Heidegger.

Habermas erinnert sich an eine Art Urszene seiner Laufbahn als engagierter Intellektueller, eine Szene, in der politische Überzeugung und philosophisches Studium plötzlich aufeinander prallten. Sein Freund Karl-Otto Apel hatte ihm an einem Wochenende im Sommersemester 1953 ein druckfrisches Exemplar von Heideggers "Einführung in die Metaphysik" präsentiert. "Bis dahin war Heidegger, wenn auch nur aus der Entfernung, der maßgebende Lehrer gewesen. Ich hatte Sein und Zeit mit den Augen Kierkegaards gelesen. Die Fundamentalontologie enthielt eine Ethik, die, wie mir schien, ans individuelle Gewissen, an die existentielle Wahrhaftigkeit des Einzelnen appellierte. Nun veröffentlichte dieser selbe Heidegger nichtrevidierte und unkommentierte Vorlesungen aus dem Jahre 1935. Das Vokabular dieser Vorlesung spiegelte die Vergötzung des völkischen Geistes, den Schlageter-Trotz und den Kollektivismus des feierlichen Wir-Sagens. Unvermutet hatte das 'Dasein des Volkes' den Platz des je einzelnen 'Daseins' eingenommen. Mein ungläubiges Entsetzen schrieb ich mir damals von der Seele." Der Artikel erschien am 25. Juli 1953 in der FAZ unter dem Titel "Mit Heidegger gegen Heidegger denken" und ist nachzulesen in dem Aufsatzband "Philosophisch-politische Profile". Nachzulesen ist hier auch der gegen Heidegger gerichtete Vorwurf, "einen Bereich spezifisch christlicher Erfahrungen" auszugrenzen, "die über Kierkegaard zu Augustin zurückreichen."

Der Artikel von Habermas hätte auch den Titel "Mit Kierkegaard gegen Heidegger denken" tragen können. Der Religiosität Kierkegaards steht Habermas indes wie schon Heidegger fern. Es ist etwas anderes, was Philosophen und Schriftsteller des 20. Jahrhunderts an Kierkegaard faszinierte. Die Suche danach führt zurück zu den Anfängen der literarischen Moderne nach 1900, in der Rilke, Kafka und viele andere Autoren Kierkegaard für sich entdeckten. Und da zeigt sich, dass die Art, wie sie Kierkegaard lasen und darüber schrieben, schon damals allenfalls zweitrangig auf die religiösen Botschaften bezogen war, die sein Werk vermittelte. Der Rückblick auf diese Kierkegaard-Lektüren ist weiterhin dazu geeignet, einige Prinzipien literaturwissenschaftlicher Vernunft, wie sie heute dominieren, in Frage zu stellen. Kierkegaard war und ist nicht nur für die Philosophie, sondern auch für die Literatur und Literaturwissenschaft eine Herausforderung.

Wenn Kafka Kierkegaard liest, wenn er sich über seine Lektüre äußert und wenn er Reminiszenzen dieser Lektüre in seine literarischen Texte einschreibt, dann könnte das für die heutige Literaturwissenschaft ein willkommenes Material für intertextualitätsanalytische Anstrengungen sein. Texte Kafkas - Tagebücher, Briefe, Erzählungen und Romane - wären mit intertextualitätsanalytischem Instrumentarium in ihren Beziehungen zu Texten Kierkegaards zu beschreiben, als exemplarisches Phänomen der Dialogizität von Literatur, als unterschiedliche Formen des Spiels mit Prätexten, die ihrerseits auf andere Texte referieren, bei Kierkegaard auf Texte Goethes, Schlegels oder Hegels.

Seine erste Kierkegaard-Lektüre verzeichnet Kafka am 21. August 1913 im Tagebuch: "Ich habe heute Kierkegaard Buch des Richters bekommen. Wie ich es ahnte, ist sein Fall trotz wesentlicher Unterschiede dem meinen sehr ähnlich zumindest liegt er auf der gleichen Seite der Welt. Er bestätigt mich wie ein Freund". Ein Fall von Dialogizität von Texten? In gewisser Weise auch. Aber was geht in einem Konzept, das vornehmlich Texte und ihre Beziehungen untereinander im Blick hat, nicht alles verloren! "Er bestätigt mich wie ein Freund". Kafka liest, wenn er Kierkegaard liest gewiss auch Texte, aber ein geradezu existenzielles Interesse hat er an der Person, die diese Texte geschrieben hat und die mit ihren Texten etwas über sich selbst mitteilt. Er liest, wenn er Texte liest, zugleich eine Person, von der er sich emotional hochgradig affizieren lässt.

In der Lektüre und im Schreiben von Texten baut sich eine imaginäre Beziehung zwischen Personen auf, die von Beziehungen in Situationen der face to face-Kommunikation nicht so (im wörtlichen Sinn) un-menschlich weit entfernt ist, wie es eine Literaturwissenschaft oft glauben machen möchte, die sich nicht als Human-, sondern als pure Textwissenschaft versteht. Und die Textlektüre und das Schreiben von Texten sind nicht nur kognitive Prozesse der Sinnkonstruktion, sondern zugleich hochgradig affektive Prozesse der Emotionalisierung. Die Kierkegaard-Lektüren Kafkas und die seiner Zeitgenossen sind dafür vielleicht besonders symptomatisch. Denn sie haben auch etwas mit Kierkegaards Philosophieverständnis zu tun, dem das Literaturverständnis der Autoren, die ihn schätzten, in vieler Hinsicht glich.

Die Kierkegaard-Begeisterung war nach 1900 ein kollektives Phänomen unter jenen deutschsprachigen Autoren, die zwischen 1880 und 1890 geboren wurden, einer Altersgruppe, der auch die späteren Repräsentanten der deutschen Existenzphilosophie Karl Jaspers (geb. 1883) und Martin Heidegger (geb. 1889) angehörten. Kierkegaards Werke, die Mitte des 19. Jahrhunderts in dänischer Sprache erschienen, waren im übrigen Europa so gut wie unbeachtet geblieben. In Deutschland manifestierte sich das seit der Jahrhundertwende, 50 Jahre nach seinem Tod, stark wachsende Interesse an Kierkegaard auf dem Buchmarkt unter anderem in der ab 1909 im Verlag Eugen Diederichs erscheinenden Gesamtausgabe seiner Schriften. Rilke las ihn schon früher. Seinen Briefen lässt sich eine ungetrübte Begeisterung entnehmen. 1904 schrieb er: "Ich lese Soeren Kierkegaard. Und diesen Sommer lerne ich dänisch, um ihn und Jacobsen in ihrer Sprache zu lesen". Ausdrücklich begeistert äußert sich Rilke erstmals am 30. August 1910 in einem Brief, der ausführlicher auch von seinem "Malte Laurids Brigge" handelt: "Jetzt lese ich Kierkegaard, es ist herrlich, wirklich Herrlichkeit, er hat mich nie so ergriffen". Noch ausgeprägter als bei Kafka ist in Rilkes Formulierungen die scheinbar metonymische Ersetzung von Texten durch die Person des Autors, der sie geschrieben hat. 1915 schreibt er: "ihn lesen heißt in ihm wohnen und er ist ein Pathos, Stimme und einsame Landschaft, ein unendlicher Anspruch ans Herz, ein Diktat, ein Donner und eine Stille wie die Stille der Blumen...".

Im Medium von Texten realisieren sich Beziehungen zwischen Subjekten, zwischen lebenden und toten, konstituieren sich Freundschaften und imaginäre Verwandtschaften. Rilkes Kierkegaardlektüre steht in engem Zusammenhang mit seiner Freundschaft zu Rudolf Kassner. Über ihn schreibt er 1912 in einem Brief, er sei der "einzige Mann, mit dem ich etwas anzufangen weiß", und charakterisiert ihn als "ein geistiges Kind Kierkegaard's". Kassner, der bereits um 1900 Kierkegaards Schriften kennen gelernt hatte und vielleicht einer der wichtigsten Initiatoren für ihre Verbreitung geworden ist, hatte 1906 einen viel beachteten Essay über den dänischen Philosophen veröffentlicht. Neben Rilke hat er offensichtlich auch Georg Lukács angeregt. Dessen Buch "Die Seele und die Formen" (1911) enthält neben einem Essay über Kassner einen über Kierkegaard.

Gemessen an Rilke wirken Kafkas Äußerungen über Kierkegaard geradezu sachlich, zumal er sich von Anfang an immer nur teilweise mit ihm identifiziert, ehe er sich später, mit Vokabeln wie "abscheulich" oder "widerwärtig", von ihm sogar vehement distanziert. Aber dass die Lektüre, auch da, wo die Aussagen über sie ausdrücklich auf Texte bezogen sind, auf die Person Kierkegaards zielt, dass er sich bei jeder Lektüre mit Kierkegaard vergleicht, ist allen Äußerungen abzulesen. "Wie ich es ahnte, ist sein Fall trotz wesentlicher Unterschiede dem meinen sehr ähnlich". Den Bemerkungen zu Kierkegaard folgt absatzlos der Satz "Ich entwerfe folgenden Brief an den Vater, den ich morgen, wenn ich die Kraft dazu habe, wegschicken will". Der Briefentwurf, den Kafka dann ins Tagebuch notiert und den er nicht abschicken wird, ist nicht an den eigenen Vater gerichtet, sondern an Carl Bauer, den Vater von Felice Bauer. Aus ihm ist in der Forschung ständig zitiert worden. Und er ist in der Tat ein Dokument, das so dicht, präzise und eindringlich wie kaum ein anderes die Problemkonstellation beschreibt, die Kafkas Schreiben in diesen Jahren permanent umkreist: die Unvereinbarkeit von Ehe und Familie mitsamt einem Beruf, in Kafkas Ausdruckweise ein "Posten", der Voraussetzung ist, für den Lebensunterhalt der Familie zu sorgen, mit seinem eigentlichen, in Kafkas Worten, "meinem einzigen Beruf, das ist der der Literatur". Zugleich ist der Entwurf wohl einer der merkwürdigsten Briefe, die je an einen Vater gerichtet wurden, den man um die Hand seiner Tochter bat. Denn alles, was Kafka da über sich selbst ausführt, ist eine Kette von Beweisen, die den Vater davon überzeugen sollen, dass sein potenzieller Schwiegersohn als solcher völlig inakzeptabel, dass er für eine Ehe vollkommen untauglich ist.

Worin Kafka eine Ähnlichkeit seines eigenen Falls mit dem Kierkegaards entdeckte, liegt auf der Hand und ist, von einem wichtigen Aspekt abgesehen, angemessen beschrieben worden, wo Literaturwissenschaftler Kafkas Beziehung zu Kierkegaard kommentiert haben. So auch in den beiden großen, auf ganz unterschiedliche Weise vorzüglichen Kafka-Biografien, die Rainer Stach (2002) und Peter-André Alt (2005) in jüngerer Zeit vorgelegt haben. Es ist Kierkegaards Verhältnis zu seiner Verlobten Regine Olsen, in dem Kafka sein Verhältnis zu Felice Bauer gespiegelt sah. "An Kierkegaard", so Alt in seiner eher nüchternen, die Kafka-Forschung umfassend verarbeitenden, an Ansprüchen der Literaturwissenschaft orientierten Biografie, "ziehen ihn zunächst die autobiographischen Berührungspunkte an; in dessen konfliktträchtiger Verlobung mit der jungen Regine Olsen, die er nach einjähriger Verbindung im Oktober 1841 aus Furcht vor der dauernden Selbstpreisgabe gegen den Willen der Braut auflöste, findet Kafka Parallelen zu seiner eigenen Situation." Stachs mit literarischer Empathie geschriebene Biografie wiederum fasst Kierkegaards Fall, natürlich im Blick auf Kafkas ähnlichen, so zusammen: "Kierkegaard, der, früh gebeugt unter dem pietistischen Terror seines Vaters, ausgelaugt von Depressionen, sich als Siebenundzwanzigjähriger spontan zur Verlobung mit einem ganz unreifen, zehn Jahre jüngeren Mädchen entschloss. Doch die psychischen Dämme, die diesen Willensakt ermöglicht hatten, hielten nur wenige Tage, danach behielten Skrupel, Reflexionszwang und Sexualangst dauernd die Oberhand. Ein volles Jahr quälte sich Kierkegaard mit der Entscheidung, dann riss er sich los, entschied sich, die leibhaftige Regine Olsen durch ein Traumbild gleichen Namens zu ersetzen."

Bei der Lektüre solcher Beschreibungen in Kafka-Biografien ist freilich Vorsicht geboten. Was die Biographen über Kierkegaard wissen, ist nicht unbedingt das, was Kafka über ihn wissen konnte, als er Kierkegaards "Buch des Richters" in die Hand bekam. Mit welchem Vorwissen Kafka in dem Buch gelesen hat, wissen wir nicht genau. Dass er ein Vorwissen hatte, lässt sich belegen. Im Juli-Heft 1913 des "Brenner", einer Zeitschrift, die damals wiederholt mit Kierkegaard befasst war, steht ein Essay über Paul Claudel von Kafkas Freund Willy Haas, der Claudel hier auch mit Kierkegaard vergleicht. Kafka bekam das Heft, Stach weist darauf hin, von dem Freund mit einer handschriftlichen Widmung. Es geht hier um den Gegensatz zwischen "Leben", das eng mit der Beziehung zu einer Frau assoziiert ist, und "höherer Bestimmung": "Grillparzer hat niemals eine ewige Braut besessen, Kierkegaard trennt sich von seiner unendlich geliebten Regina, um ihr ein Leben lang treu zu bleiben. Claudel wird Katholik. Ist es ihr Wille, ist es höhere Bestimmung? Aber man muß vielleicht auf dieses irdische Leben irgendwie verzichten, wenn man unsterblich werden will".

Was erfuhr Kafka darüber hinaus über Kierkegaard aus dem "Buch des Richters"? Es erschien 1905 im Verlag Eugen Diederichs und ist ein thematisch gegliederter und vom Herausgeber knapp kommentierter Auszug aus seinen Tagebüchern und aus einigen Lebensdokumenten, die nicht von ihm selbst stammen. Eines der sieben Kapitel trägt die Überschrift "Kierkegaard und Regine Olsen". Ihm geht eine lapidare Information des Herausgebers voraus: "Am 10. September 1840 verlobte sich S. K. mit Regine Olsen, welche Verlobung er im Oktober 1841 wieder aufhob". Daran, dass Kafka an diesem Buch vor allem Kierkegaards Verstrickung in diese Beziehungsgeschichte interessierte, besteht wohl kein Zweifel. Verlobt hatte er sich mit Felice Bauer noch nicht, aber die permanenten Skrupel gegenüber der Verlobung glichen Kierkegaards Skrupel gegenüber der Ehe. Und man geht vielleicht nicht zu weit mit der Vermutung, dass Kafka sich von Kierkegaard nicht nur wie ein Freund bestätigt sah, sondern dass seine identifikatorische oder existenzielle Art der Lektüre dazu angetan war, zukünftige Lebensentscheidungen nach erlesenen Mustern zu treffen. Ein Jahr überdauerte im Fall Kierkegaard die Verlobung, im Fall Kafka nur sechs Wochen. Was Kierkegaard während seiner Verlobungszeit an Zweifeln artikulierte, hatte Kafka schon vor der Verlobung besorgt.

Das "Buch des Richters" enthielt indes noch andere Angebote für eine identifikatorische Lektüre, die bislang übersehen wurden. Vom Titel einmal abgesehen und von Kierkegaard charakterisierenden Sätzen des Herausgebers wie "Er mag niemanden verurteilen, nur einen ausgenommen, sich selbst", sind es die Fragmente der Geschichte einer Vater-Sohn-Beziehung, die das Vorwort des Herausgebers präsentiert und die im ersten Kapitel über "Kierkegaards Persönlichkeit" durch einige wenige Dokumente ergänzt werden. Es ist die Geschichte eines verlorenen Sohnes, der erst, als der Vater tot ist, bußfertig zurückkehrt: "Vergeblich klagt der Vater, daß nichts aus Sören wird, und daß er nie ein Examen macht; da stirbt der alte Mann, und sofort macht Sören sein Examen, denn die Toten behalten immer recht". Der Tod des Vaters erst macht aus dem Sohn einen Sohn ganz nach des Vaters Wünschen. Der Sohn wiederum hebt den Vater, sobald er tot ist, in himmlische Regionen. Vater und Gott werden eins. "Mein Vater starb", heißt es in einer abgedruckten Tagebuchaufzeichnung Kierkegaards, "da bekam ich an seiner Stelle einen anderen Vater: Gott in den Himmeln".

Es ist bei allen Ähnlichkeiten des Falls diese Kombination von entschiedener Vaterhörigkeit und Gottgläubigkeit, die mit den "wesentlichen Unterschieden" gemeint sein dürfte, von denen nach der ersten Kierkegaard-Lektüre die Rede ist. Dem entspricht eine spätere Bemerkung Kafkas über ihn: "Ich bin nicht von der allerdings schon schwer sinkenden Hand des Christentums ins Leben geführt worden wie Kierkegaard". In einer Tagebuchaufzeichnung von 1913 grenzt Kafka ähnlich seine eigene permanente Unentschiedenheit von der Entschiedenheit Kierkegaards ab, einer Entschiedenheit, die Kierkegaards Philosophie zum Erkennungszeichen menschlicher Freiheit erklärt hatte. Ende 1917 schreibt Kafka an seinen Freund Oskar Baum: "Kierkegaard ist ein Stern, aber über einer mir fast unzugänglichen Gegend, es freut mich, daß Du ihn jetzt lesen wirst, ich kenne nur 'Furcht und Zittern'".

Die intensivere Auseinandersetzung Kafkas mit Kierkegaard fällt auf das Ende des Jahres 1917 und den Anfang des Jahres 1918. Sie ist dokumentiert in dem damaligen Briefwechsel mit Max Brod. Die Auseinandersetzung mit dem toten Autor, der ihn 1913 wie ein Freund bestätigt hatte, ist zugleich Auseinandersetzung mit einem realen Freund und damit ein Fall doppelter Dialogizität. Kafkas Urteil über Kierkegaard schwankt hier zwischen Bewunderung und Distanz, was er selbst wie folgt verbildlicht: "aus dem Zimmernachbar ist irgendein Stern geworden, sowohl was meine Bewunderung, als eine gewisse Kälte meines Mitgefühls betrifft". Von der Macht der Kierkegaardschen Terminologie, schreibt er etwas später, werde "man geradewegs ins Glück des Erkennens getragen". Im selben Briefwechsel übt Kafka jedoch auch scharfe Kritik. So bezeichnet er Kierkegaards "Entweder-Oder" zusammen mit einigen Schriften von Martin Buber als "abscheuliche, widerwärtige Bücher". An anderer Stelle wirft er Kierkegaard und Brod vor, "der strebende Mensch" müsse sich bei ihnen gegen die Welt stellen, "um das Göttliche in sich zu retten". "So muß die Welt vergewaltigt werden von Dir wie von Kierkegaard". Die von Kafka geäußerte Kritik an Kierkegaards "Furcht und Zittern" zielt in eine ähnliche glaubenskritische Richtung. Die Sortini-Episode im "Schloß"-Roman, die Max Brod zum Beleg für die Übereinstimmungen Kafkas mit Kierkegaard verklärte, erhält in diesem Kontext gegenteiligen Sinn: Amalia, die sich dem Begehren des göttlichen Schlossbeamten entzieht, ist dann als Kontrastfigur zu Kierkegaards Abraham zu verstehen. Kierkegaards Religiosität ist Kafka unzugänglich. Er hat sie durch Kunst, durch Literatur ersetzt, die religiöse Existenz durch eine literarische. Doch auch dieser gegenüber zeigt er sich voller Zweifel.

Die Konfliktkonstellation, die Kierkegaard mit seinem Schreiben ständig reflektierte, ist durch drei zentrale Begriffe markiert: das Ästhetische, das Ethische und das Religiöse. Sie sind in dieser Reihenfolge hierarchisch geordnet. Und das Ästhetische ist in dieser Hierarchie mit den Niederungen der Sinnlichkeit und einem ihr verpflichteten Hedonismus assoziiert. Die ästhetische Existenz folgt einem Lustprinzip, das ihm in der Tradition des 18. Jahrhunderts als unfrei gilt. Die ethische Existenz dagegen, die, frei von den Zwängen der sinnlichen Natur, den Prinzipien sozialer Verantwortung folgt, basiert auf einem Akt entschiedener Wahl. Die Ehe ist eine der maßgeblichen Möglichkeiten ethischer Existenz. Dass Kierkegaard sich gegen sie entschieden hat, erscheint in seiner Hierarchie der Werte allerdings nicht ästhetisch, sondern nur religiös gerechtfertigt. In den Auseinandersetzungen mit der Geschichte Abrahams und Isaaks, die er in "Furcht und Zittern" vorgelegt hat, versündigt sich Abraham unter ethischen Gesichtspunkten durch seine Opferbereitschaft. Unter religiösen Maßstäben handelt er, in einer Art Ausnahmezustand, gerechtfertigt. In den späten Erzählungen "Erstes Leid", "Ein Hungerkünstler" und "Josefine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse" schrieb Kafka Merkmale der religiösen Existenz, wie sie Kierkegaard konzipiert hatte, seinen Künstlerfiguren zu. Sie scheinen von den sozialen Normen, die für andere gelten, befreit zu sein. "Daraus könnte man schließen, daß Josefine fast außerhalb des Gesetzes steht, daß sie tun darf, was sie will, selbst wenn es die Gesamtheit gefährdet, und daß ihr alles verziehen wird". Der entschiedenen Selbstgewissheit Kierkegaards in der Wahl einer religiösen Existenz stehen indes die permanenten Selbstzweifel Kafkas am Wert einer literarischen Existenz gegenüber.

Kafka war mit seiner Distanz zu Kierkegaards Religiosität unter den literarischen Zeitgenossen, die den dänischen Philosophen lasen, nicht allein. Rilke, Kassner oder Hesse standen ihm da nahe. Was sie alle jedoch an Kierkegaard beeindruckte, war dessen existenzielle Beteiligung an dem, was er schrieb, der literarische Gestus des persönlichen Involviertseins in das religionsphilosophische Denken, der diesem den Effekt des Authentischen verlieh. Kierkegaards Philosophie der Existenz, die sich gegen ein bloß ästhetisches Dasein richtete und eines, das in der Konstruktion abstrakter Denksysteme (das Paradigma dafür war Hegel) über die existenziellen Probleme des konkreten Subjekts hinweggeht, entsprach im deutschsprachigen Raum nach 1900 eine Literatur der Existenz, die gegen den (neu)romantischen Ästhetizismus und philosophischen Neoidealismus opponierte.

"Während das objektive Denken gegen das denkende Subjekt und dessen Existenz gleichgültig ist, ist der subjektive Denker als existierender an seinem Denken wesentlich interessiert: er existiert ja darin", schrieb Kierkegaard. Ähnlich beschrieb er in den Tagebüchern seine Form der lesenden Aneignung philosophischer Texte: "wenn ich mich durch die Systeme der Philosophie hindurcharbeite [...] - was nützte es mir... wenn es für mich selbst und mein Leben keine tiefere Bedeutung hätte". "Der Roman bin ich, meine Geschichten sind ich", schreibt Kafka 1913 an Felice. Sein literarischer Zeitgenosse Georg Heym fordert vom Dichter, "daß er sein Leben dichtet und nur sich selbst". Wie Kierkegaard seinen Begriff des "subjektiven Denkers" zur Kritik des abstrakten, systematischen, objektiven und spekulativen Denkers, der mit seiner Existenz nicht an seinem Denken beteiligt ist, geprägt hat, entsprechend existenziell engagiert zeigt sich die junge literarische Avantgarde um 1910 - beim Schreiben wie beim Lesen. Wie Kierkegaard das Denken um des Denkens willen ablehnte, so der Expressionismus die Kunst um der Kunst und das Ästhetische um des Ästhetischen willen.

Als Kafka im Herbst 1917 seine Auseinandersetzung mit Kierkegaard intensivierte, bewunderte er bei aller inhaltlichen Distanz dessen literarischen Stil: die Art, im Spiel mit den Masken von Pseudonymen, in Formen der Ironie und der perspektivischen Brechung, in aphoristischen Gedankensplittern und im eigenwilligen Aneignen kollektiver, mythischer Diskurse einen Prozess der Selbstreflexion in Gang zu setzen, der vom bloß Persönlichen und Privaten abstrahierte und es verbarg. In Kafkas ironischer "Anpassungen an die Hierarchien der Gesellschaft" sieht denn auch Peter-André Alt ein Element jener "Täuschungsrhetorik, wie sie Kierkegaard kongenial am Beispiel der sokratischen Rede analysiert hat." Und wie Kierkegaard selbst sie praktiziert hat, wäre noch zu ergänzen. Doch zugleich setzten Kierkegaard wie Kafka permanent Signale, die dem Leser deutlich machen: 'Diese Texte handeln von mir. Sie sind durch meine Existenz, durch meine Erfahrungen beglaubigt'.

"Wen kümmert's, wer spricht, hat jemand gesagt, wen kümmmert's, wer spricht". Dieses Beckett-Zitat in Michel Foucaults berühmter Schrift "Was ist ein Autor?" ist zu einer Art Slogan in diversen Theorien vom Tod des Autors und vom Verschwinden des schreibenden Subjekts im Spiel der Texte und intertextuellen Geflechte geworden. In dieser Unbekümmertheit um das Subjekt von Sprech- und Schreibakten, in dieser, wie Foucault schreibt, "Gleichgültigkeit" müsse "man wohl eines der ethischen Grundprinzipien heutigen Schreibens erkennen". Auf welche ästhetischen Konzepte und literarischen Praktiken der Moderne dies auch immer zutreffen mag, auf den Surrealismus etwa oder auf den Nouveau Roman: Kafka, den Foucault als Beispiel anführt, und seine Zeitgenossen passen jedenfalls nicht in diese Konzeption. Gerade auch Kafka als Leser war immer brennend an der Person des Autors interessiert, die in ihren Texten spricht. Wie Kafka und die Autoren seiner Zeit Kierkegaard lasen, ist dafür nur ein Beispiel.

Anmerkung der Redaktion: Die angegebene Biographie von Rainer Stach wurde in literaturkritik.de 02/2003 bereits gesondert besprochen, zu der von Peter-André Alt erscheint eine Rezension in Kürze.


Titelbild

Reiner Stach: Kafka. Die Jahre der Entscheidungen.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
672 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3100751140

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Titelbild

Peter-André Alt: Franz Kafka. Der ewige Sohn. Eine Biographie.
Verlag C.H.Beck, München 2005.
763 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-10: 3406534414

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Titelbild

Jürgen Habermas: Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
372 Seiten, 16,80 EUR.
ISBN-10: 3518584472

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