Das 19. Jahrhundert dauert an
Dan Diners universalgeschichtlicher Versuch über das 20. Jahrhundert
Von Thomas Schmid
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas, was wir für unsere Geschichte halten, muss mit dieser nicht viel zu tun haben. Alle, die mehr oder minder professionell mit dem Herstellen von Geschichtsdeutungen und vor allem Geschichtsbildern befasst sind, haben uns die Historie vorgekaut, aufbereitet. Wir neigen dazu, die Geschichtserzählungen, die uns serviert wurden, für bare Münze zu nehmen. Aus dem sicheren Hort der Gegenwart blicken wir auf eine Vergangenheit, die der Fluss der historischen Erzählungen zu einem Gebilde abgeschliffen hat, das so und nicht anders sein musste. Unser Geschichtsblick folgt einer umgekehrten Teleologie.
Im Grunde liegt die Einsicht nahe: So, wie es zur verbindlichen Erzählung gebündelt ist, kann es nicht gewesen sein. Denn die Erzählung ebnet ein, vereinfacht, übersieht, kurz: Sie ist mit Blindheit geschlagen, weil sie das Privileg der Gegenwärtigkeit zur Unachtsamkeit verleitet. So blind sie ist, so beliebt ist diese Erzählung wegen ihrer Vertrautheit bildenden Geschlossenheit aber auch.
Ein Beispiel ist das Jahrhundert, das zu Ende geht. Gerade Deutsche neigen - gewissermaßen in zerknirschter Selbstüberhebung - dazu, es als deutsches Jahrhundert zu sehen: als ein Jahrhundert, das vom singulären Massiv des Nationalsozialismus und seiner mörderischen Dynamik beherrscht wird. So verengt sich das Davor zur Einbahnstraße in Richtung Barbarei, deren Höhepunkt dann zur dunklen Geburtsstunde der sich zivilisierenden Republik wird.
Diesem Klippschulbild von Geschichte rückt Dan Diner in einer bemerkenswerten Studie zu Leibe. Was er zu der Ereigniskette sagt, die 1932/33 zur Ernennung Hitlers zum Reichskanzler führte, beschreibt den Nebel, den das Buch lichten möchte: "Die Perspektive des Nachhinein macht die nachfolgenden Ereignisse zum Maßstab, ist notwendig alarmistisch und teleologisch." Diner hat ein klares Ziel: Er will die Geschichte dieses Jahrhunderts aus dem eisernen Griff der Zwangsläufigkeit befreien, will die Möglichkeiten zu ihrem Recht kommen lassen und die herkömmliche Aufteilung in Zentren und Peripherien des welthistorischen Geschehens nicht hinnehmen.
Eine Kernidee des Buches besteht in der These, dass die großen Konflikthöfe dieses Jahrhunderts - Nationalismus, Nationalsozialismus, Kommunismus - weit weniger ideologisch waren als angenommen. Ohne der Theorie vom abgeleiteten Charakter des "Überbaus" anzuhängen, zeigt Diner doch, dass sich auf den Schlachtfeldern der modernen Glaubenskriege in Wahrheit die Ahnen aus dem 19. Jahrhundert der diplomatisch eingehegten Kriege tummelten, dass Kontingenzen, Ereignisse, Personen und Interessen eine so wichtige Rolle spielten, dass sie - genau besehen - die Klarheit der historischen Heroengemälde eintrüben.
Ein Beispiel ist die Sowjetunion. An einer Fülle von Beispielen zeigt Diner, dass sie - und zwar von Anfang an - keineswegs das hohe Ziel der Weltrevolution verfolgte. Die Revolution war vielmehr eine nationale Angelegenheit, und bei allen späteren Versuchen, das sowjetische Modell zu exportieren, folgte die Sowjetunion nie einem ideologischen Plan, sondern immer einem nationalen Interesse, das nichts mit Kommunismus, sehr viel aber mit den Linien russischer Diplomatie des 19. Jahrhunderts zu tun hat. Wie Diner insgesamt immer wieder herausarbeitet, dass das 20. Jahrhundert im Grunde wenig originär war, sondern sich gewissermaßen mit dem unerledigten Berg der politischen Probleme des vorhergehenden Jahrhunderts herumzuschlagen hatte. Allen Genoziden und aller Globalisierung zum Trotz: In Wahrheit hat es sich in den Stiefeln der Politik des 19. Jahrhunderts bewegt, deren Eckpunkte Gleichgewicht und Hegemonie gewesen waren.
Ein anderes Beispiel ist der Spanische Bürgerkrieg, der nicht nur in den Liedern Ernst Buschs den Stoff abgeben musste für eine religiös überhöhte Folklore der Befreiung. Sehr nüchtern zeigt Diner, dass diese Deutung nicht nur (was vielen ja längst gedämmert hat) übertrieben, sondern falsch ist. Unter dem Himmeln von Madrid traten nicht Licht und Dunkel, Gut und Böse gegeneinander an, sondern Interessen, die in ein weitverzweigtes Netz bündnispolitischer Manöver der Mächte Europas eingebunden waren. Nazideutschland sprang Franco keineswegs in faschistischem Überschwang bei, ließ sich vielmehr - auf Ausgleich mit den Briten bedacht - nur sehr zögerlich auf die Intervention ein. Und die Sowjetunion wollte mit ihrer Intervention auf der iberischen Halbinsel weder Republik und Freiheit befördern noch der revolutionären Expansion dienen.
Der vierzigjährige Kalte Krieg, der unter dem Zeichen der atomaren Katastrophe stand, "annullierte die aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert und der Zwischenkriegszeit überlieferten politischen Bedeutungen nationaler Gedächtnisse". Die Bundesrepublik - nicht mehr Nation, sondern nur noch Gesellschaft - übte wie die anderen westeuropäischen Länder auch die funktionierende zivile Gesellschaft ein und rannte damit in gewisser Weise der Vergangenheit davon. Nach 1989 kam sie wieder, auf dem Balkan bescherte sie vier Kriege. Am Ende des 20. sind wir wieder im 19. Jahrhundert, und das hat uns so überrascht, weil wir die Verbindungsdrähte zur Geschichte gekappt hatten. Nun müssen wir wieder - inmitten eines sich vereinigenden Europas - neu buchstabieren, was "Nation" und "Volk" bedeuten, was sie mit dem Erbe der Aufklärung zu tun haben. Nationalismus sehen wir als dunkle Kraft aus ferner Vergangenheit - in Wahrheit ist modern und licht, was ihn auf den Weg gebracht hat. Vom Baltikum über den Balkan bis zu Griechenland und der Türkei ausgreifend, dröselt Dan Diner die verwirrende Vielfalt dieser Kräfte nach. Am Anfang steht die der Aufklärung verpflichtete Idee einer in freiem Willen konstituierten Nation. Diner schreibt: "Das Prinzip der Selbstbestimmung durchschlug wie ein Projektil die Strukturen des alten Europa."
Vielleicht ist das die Grundmelodie des Buches: Unter revolutionären Druck von Technik (insbesondere der Technik der Massentötung) und Nationalismus gesetzt, gelang es dem alten Europa nicht, einen geordneten, nicht-katastrophischen Weg von den Anden régimes in moderne Gesellschaften zu finden. Vor allem gelang es nicht, die Idee der Selbstbestimmung einzuhegen. Welche Gruppe immer sich selbst bestimmen wollte - sie schien das historische Recht der neuen Zeit auf ihrer Seite zu haben und zog ihre Sache rücksichtslos durch, vor allem in den vorkonstitutionellen Ländern Ost- und Ostmitteleuropas auf Kosten all jener "Minderheiten", die nicht in das Konzept passten. Der nationalistische Hass war ein Kind der aufgeklärten Idee von Selbstbestimmung. Und vielen Staaten ist es nicht gelungen, ein gemeinsames Gedächtnis zu entwickeln, das Platz gehabt hätte für alle, die es teilen möchten. Die schöne Idee der Selbstbestimmung hat nicht vereint, sondern gespalten.
Dan Diner, dem unter anderem eine verblüffende Darstellung von Hitlers "Machtergreifung" sowie eine bemerkenswerte Deutung der Wege zum Holocaust gelingt, gibt seiner Studie den nicht eben bescheidenen Untertitel "Eine universalhistorische Deutung". In der Tat versucht er, aus den Gefängnissen der Strukturgeschichte, der Verhängnisgeschichte, der Geschichte der longue durée sowie der reinen Ideengeschichte auszubrechen. Nicht nur thematisch, sondern auch methodisch setzt er beim 19. Jahrhundert an. So spröde der Text, der sich oft gegen das Erzählen wehrt, auch ist: Diner stellt sich in die Tradition jener Historiographie, die Mut wie Atem zu den großen geschichtlichen Bögen hatte. Das macht sein Buch sperrig und sensationell.
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