Long Distance Death
Jan J. Lievers liest "Saturday" von Ian McEwan
Von Wolfgang Haan
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseLong Distance Death
Ein Mann steht am offenen Fenster und schaut zu, wie ein brennendes Flugzeug abstürzt. Er betrachtet seelenruhig seine schlafende Frau, unternimmt jedoch nichts weiter.
So beginnt Ian McEwans neuester Roman "Saturday", der 24 Stunden im Leben von Henry Perowne beschreibt, welcher nur eines möchte: Sein kleines Glück im Schoß der Familie während seines freien Wochenendes genießen. Gleichzeitig findet an diesem Tag, es ist der 15. Februar 2003, die bis dato größte Demonstration gegen den Irak-Krieg in London statt.
Philosophierender Rationalist
Ian McEwan weist fast plakativ seinen Protagonisten bestimmte Eigenheiten zu. Besonders auffällig ist dies bei der Hauptperson Henry Perowne, die rational und emotionslos handelt, Möglichkeiten und Alternativen abwägt und mit dem Status Quo - ein Mitglied der Oberen Mittelschicht zu sein - glücklich ist. Ungewöhnlich für einen Rationalisten ist jedoch, dass er ständig scharf beobachtet, analysiert, philosophiert, Verknüpfungen herstellt; kurz gesagt: die gewonnenen Erkenntnisse emotional verarbeitet. Man gewinnt fast den Eindruck, es hier mit einem Alter Ego des Autors zu tun zu haben.
Vordergründig hat McEwan, wie viele andere Künstler auch, intensive Recherchen über die Hintergründe des 11. September 2001 anhand von Sachbüchern, Reiseberichten, ökonomischen Studien etc. angestellt. Aber statt nun eine wissenschaftliche oder zumindest populärwissenschaftliche Arbeit anzugucken, gipfelt die Essenz seiner Vorarbeiten in diesem außergewöhnlichen Roman.
Sozialdarwinismus
Die Theorie des Sozialdarwinismus ist heutzutage obsolet. Geschickt verpackt taucht sie in abgewandelter Form nun in dieser Geschichte wieder auf: "Das ganze Leben ist ein Überlebenskampf. Nur ein winziger Schritt trennt Glück und Unglück, Dasein oder Untergang." Diese Thematik zieht sich wie ein roter Faden durch den Roman.
Der Protagonist erzählt vom Operationsalltag, vom Kampf gegen den Tod. Er erzählt von den Demonstranten, die gegen den drohenden Krieg auf die Straße gehen, von seiner Tochter, die sich gerade zu einer hoch gelobten Lyrikerin gemausert hat. Sein Sohn hat sich, und das bereits mit seinen 18 Lebensjahren, die Hochachtung alter Blues-Veteranen erkämpft. Henry kämpft auf einer Squash-Cour gegen die drohende Niederlage durch seinen Kollegen, und sieht sich nach einem Auto-Unfall dem gegnerischen Fahrer gegenüber, mit dem er einen Kampf darüber befürchtet, wer jetzt der Schuldige ist.
McEwan beantwortet an keiner Stelle die Frage, wer nun gewinnt oder verliert. Dies ist weniger wichtig. Wichtig scheint ihm vielmehr zu sein, dem Hörer klar zu machen, dass uns von allen Seiten Gefahren drohen, die durch die Anschläge des 11. September eine weitere Dimension bekommen haben. Viele Menschen streben heute nach Unabhängigkeit und Individualismus. McEwan holt uns in die Realität zurück, indem er uns klar macht, dass es schon reicht, Mitglied einer Gesellschaft zu sein, um als Opfer in Frage zu kommen. Individuelle Schuld ist dazu nicht nötig. Die zweite große Frage, die er aufwirft, hat mit den Einschränkungen der persönlichen Freiheit durch Eingriffe des Staates zu tun. Fast beiläufig wird in Nebensätzen oder Andeutungen davon berichtet, dass fast die ganze Innenstadt Londons durch Kameras und Satelliten überwacht wird; dass Rasterfahndungen durchgeführt werden etc. etc., die der Allgemeinheit dienen, allerdings auch den Bürger überwacht, der mit Terroranschlägen überhaupt nichts zu tun hat und wobei nicht klar ist, was mit den gesammelten Daten geschieht.
Kurzatmigkeit
Wie so häufig handelt es sich bei dem vorliegenden Hörbuch um eine Lesefassung, also um eine gekürzte Form des Romans. Diese Kürzungen sind, zumindest teilweise, nicht gut gelungen. Es wurden zwar keine Handlungsstränge weggelassen, allerdings so stark beschnitten, dass sie nicht mehr die ursprüngliche literarische Wucht besitzen. Dies wird bereits am Anfang des Hörbuches deutlich, als Henry beobachtend am Fenster steht. In einem kurzen Satz wird der ganze Kampf der Passagiere ums Überleben abgetan: "kein Passagier kann im Mittelteil noch Leben". Im Original verwendet der Autor viel Zeit darauf, Henry imaginieren zu lassen, welche Tragödien sich im Rumpf des Flugzeuges abspielen.
Gelesen wird das Hörbuch von Jan-Josef Liefers, dessen Interpretation des Romans ungewöhnlich ist. Er verleiht dem Ganzen einen sinistren, unheilsvollen Unterton, der dem Roman nicht innewohnt. Seine Stimme klingt unpassend hell und zu leise; er pausiert an ungewöhnlichen Stellen und so häufig, dass man sich als Hörer manchmal die Frage stellt, wo denn nun die Ursache für die bedeutungsschwangere Unterbrechung liegt. Aber das störendste Element waren wohl die ungewöhnlich häufigen und lauten Atemgeräusche, die so klangen, als ob Herr Liefers an Atemnot oder Kurzatmigkeit leide.
Fazit: Ein hervorragend inszenierter Roman mit schlüssigen Figuren, packenden Beschreibungen und wunderbar detaillierten Innenwelten, jedoch unglücklich gekürzt und suboptimal vorgetragen.
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